Jede Schulkultur und jede Klassengemeinschaft ist geprägt von den Haltungen der Beteiligten, von ihren Gewohnheiten und davon, wie sie ihr Zusammenleben gestalten und regeln. Schulleitende und Lehrpersonen können diese Kultur aktiv entwickeln, so dass sich alle Beteiligten zugehörig fühlen und gut lernen und arbeiten können.

Klassengemeinschaft und Schulkultur sind eng miteinander verbunden. Die gelebte Schulkultur kommt auch in den Klassen zum Ausdruck. Gleichzeitig prägt das Geschehen in den Klassen die Schulkultur, z.B. wenn über den Klassenrat eine Idee oder ein Wunsch ins Schülerinnen- und Schülerparlament gelangt. Die folgenden Ausführungen gelten daher sowohl für die Klassengemeinschaft als auch für die Schulkultur. Manchmal beziehen sie sich stärker auf die Ebene der Klasse, manchmal stärker auf die Ebene der Schule.

Im Kontext von Migration und sozialen Ungleichheiten erachten wir eine Klassengemeinschaft bzw. Schulkultur als erstrebenswert, in der alle Akteurinnen und Akteure Anerkennung erfahren, sich zugehörig fühlen, Gleichstellung erleben und erfolgreich lernen und arbeiten können. (1) Damit Schulen dies erreichen, können sie ein paar Aspekte besonders beachten:

Gemeinschaftsbildung

Eine aktive Gemeinschaftsbildung begünstigt eine solche Schulkultur. Die Gemeinschaft basiert auf den Beziehungen innerhalb einer Schule und festigt sich u.a. über gemeinsame Anlässe.

Es sind die Beziehungen zwischen den Akteurinnen und Akteuren einer Schule, «die entscheiden, ob die Schule zu einem guten und damit auch erfolgreichen Ort für alle Beteiligten wird» (Kegler, 2018, S. 14). Positive Beziehungen wirken auch positiv auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Dies hat Hattie in seiner Meta-Studie «Visible Learning» bereits vor vielen Jahren festgestellt. Er fokussiert dabei auf die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden und stellt einen sehr engen Zusammenhang zwischen Beziehung und Lernen fest. Zudem tragen positive Beziehungen zu Engagement und Respekt im Klassenzimmer bei. (2)
 

Lehrpersonen können dann eine positive Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern aufbauen, wenn diese sich im Klassenzimmer anerkannt fühlen. Auch wenn Lehrpersonen über Fähigkeiten wie Zuhören, Empathie, Fürsorge und eine positive Einstellung gegenüber anderen verfügen, unterstützt dies den Aufbau der Lehrpersonen-Lernenden-Beziehung. (3) Und schliesslich tragen Lehrpersonen zu einer positiven Beziehung bei, wenn sie am Lernen ihrer Schülerinnen und Schülern interessiert sind. Dies bedeutet u.a., dass sie das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler als veränderbar betrachten. Und dass sie wissen, dass sie als Lehrpersonen für die Veränderungen eine wichtige Rolle spielen. (4)
 

Auch die Peers haben über die Beziehung einen Einfluss auf das Lernen. Sie bestimmen mit, ob die Klasse oder die Schule ein Ort ist, an den Lernende gerne hingehen. Sie können Hilfestellungen bieten und es entstehen Freundschaften. Umgekehrt können Peers ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wenig akzeptieren und dadurch marginalisieren. Dies kann eine entmutigende Wirkung auf die Betroffenen haben und sich damit negativ auf deren Lernen auswirken. (5) 
 

Mit Bezug zur Anerkennungstheorie von Honneth (vgl. Hintergrundinformationen Diversität) beschreiben auch Helsper & Lingkost (2002), wie wichtig die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden ist. Es geht dabei um die Form der affektiven Anerkennung. Diese drücken Lehrpersonen aus, wenn sie gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern eine positive, interessierte, freundliche und offene Haltung einnehmen. Dadurch entsteht Vertrauen und darauf aufbauend ein «professionelles Arbeitsbündnis». Ist hingegen zu wenig Vertrauen vorhanden, kann es zu emotionalen Anerkennungsproblemen kommen, wie z.B. Verunsicherung. (6)
 

Neben Interesse und Empathie erachtet Kegler (2018) – Schulleiterin in Potsdam – auch Ehrlichkeit und das gemeinsame Suchen nach Lösungen als bedeutsam. Das heisst beispielsweise, dass Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern unerwünschtes Verhalten klar vor Augen führen und dann gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen. Diese «Beziehungsarbeit» leisten Lehrpersonen täglich und sie ist sehr anspruchsvoll. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich z.B. bezüglich Gesprächsführung weiterbilden können, am besten gemeinsam im Team. (7)
 

Bezogen auf die gesamte Schule können gestärkte Beziehungen dazu beitragen, dass negative Verhaltensweisen – insbesondere Gewalt – abnehmen. Wer sich gegenseitig kennt, respektiert sich möglicherweise eher. Auch reagieren Unbeteiligte vielleicht schneller, wenn sie diejenigen kennen, die in einen Konflikt involviert sind. Eine Schule intensiviert das Beziehungsnetz, indem sie gemeinsame, positive Erlebnisse ermöglicht. Und sie hat zum Ziel, dass sich möglichst viele gegenseitig mit Namen kennen und diese Namen richtig aussprechen. (8) Heterogen zusammengesetzte Lerngruppen können helfen, Vorurteile abzubauen. Allerdings bauen sich Vorurteile nicht einfach automatisch ab. Vielmehr müssen Lehrpersonen die Gruppen aktiv begleiten: Sie arbeiten möglichst mit kooperativen Lernformen, bei denen eine Gruppe ein gemeinsames Ziel verfolgt. Sie achten darauf, dass alle Kinder in der Gruppe eine wichtige Funktion einnehmen und dadurch möglichst alle einen gleichwertigen Status haben. Sie beobachten Ein- und Ausschlussprozesse genau und besprechen sie gegebenenfalls mit den Kindern. Und sie versuchen, auch die Eltern für das Lernen in heterogenen Gruppen zu gewinnen. (9)

Feste, Rituale, Kultur- und Sportanlässe sind in einer aktiven Gemeinschaft feste Bestandteile des Schulalltags. Solche Anlässe stärken die Beziehungen innerhalb einer Schule. Sie eignen sich zudem, um die Vielfalt einer Schule als selbstverständlich zu erleben, so dass sich alle möglichst zugehörig fühlen. (10) Damit dies gelingt, gestalten Schulen die Anlässe diversitätssensibel und vermeiden Stereotypisierungen. Denn Stereotypisierungen können dazu führen, dass sich Eltern und Kinder als «anders» wahrgenommen und dadurch nicht zugehörig fühlen. Man spricht in diesen Situationen auch von «Othering», weil jemand als «anders» konstruiert wird (vgl. dazu Ausführungen beim Themenfeld Diversität). «Othering» erfolgt meist subtil und oft unbewusst. Beispielsweise fordern Lehrpersonen Eltern dazu auf, fürs interkulturelle Buffet etwas aus ihrem Herkunftsland beizusteuern. In positiver Absicht möchten sie den Eltern ermöglichen, etwas «von sich» zu zeigen. Indem sie das «von sich» mit dem Herkunftsland verbinden, können sie den Eltern allerdings implizit das Gefühl vermitteln, «anders» zu sein und deshalb nicht dazu zu gehören. Möglicherweise hat das «von sich» nämlich nichts mit dem Herkunftsland zu tun, sondern die Eltern möchten etwas mitbringen, das ihnen immer besonders gut gelingt oder sie sind vor kurzem auf ein spannendes Rezept gestossen, das mit ihrem Herkunftsland nichts zu tun hat. Oder sie möchten sogar etwas mitbringen, das ihre Zugehörigkeit zu ihrem jetzigen Wohnort unterstreicht. Lehrpersonen können «Othering» vermeiden, indem sie Eltern um einen Beitrag bitten ohne den Hinweis aufs Herkunftsland. Die Eltern sind dann in ihrer Entscheidung frei und das Buffet wird dadurch vermutlich genauso vielfältig. (11) Wie eine Klasse ein vielfältiges Buffet konkret organisiert hat, haben wir hier beschrieben.

Gemeinsame Schulhausregeln

Damit die Gemeinschaft funktionieren kann, braucht es für das Zusammenleben an den Schulen klare Regeln.

Regeln kann eine Schule beispielsweise in einem für alle verbindlichen Schulhauscode festhalten. Es ist für alle Beteiligten einfacher, wenn eine Schule geltende Regeln und vorhandene Freiräume klar definiert und kommuniziert. (12) Dies kann Missverständnissen, Frustrationen und Konflikten vorbeugen. Denn die in der Schule geltenden Regeln und Freiräume stimmen nicht zwingend mit denjenigen anderer Gemeinschaften (Sportvereine, Familie, religiöse Gemeinschaften, Peergruppe usw.) überein, in denen sich die Schülerinnen und Schüler bewegen. (13) Lehrpersonen, Schulleitende, Schulsozialarbeitende, Betreuungspersonen, Hauswarte sowie Schülerinnen und Schüler erarbeiten den Code möglichst gemeinsam und überprüfen ihn regelmässig. Verstehen und akzeptieren alle Beteiligten die Regeln, halten sie diese auch eher ein. Anreize dafür verstärken ein positives Klima zudem eher als Sanktionen. (14)
 

Empfehlungen, wie Schulen solche Regeln erarbeiten können, finden Sie beispielsweise bei Mantel et al., 2019, S. 42)
 

Gerade in einem migrationsbezogen heterogenen Umfeld ist es wichtig, dass ein Schulhauscode auch klare Aussagen zu diskriminierendem Verhalten macht. (15)

Durch eine klare Haltung gegenüber diskriminierendem und ausschliessendem Verhalten ermöglichen Schulen eine Schulkultur, in der sich alle zugehörig fühlen und erfolgreich lernen können. Dies bedingt, dass sich Schulteams gemeinsam mit Diskriminierungsprozessen auseinandersetzen.
 

Diskriminierungen sind in der gesamten Gesellschaft vorhanden, nicht nur in der Schule. Sie entstehen dann, wenn wir vorhandene Unterschiede bewerten. Die einen Ansichten, Vorstellungen und Eigenschaften betrachten wir als normal, andere hingegen als abweichend. Wer bestimmen kann, was als normal und was als abweichend gilt, hängt mit den vorhandenen Machtverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft zusammen. (16)
 

Diese implizite oder explizite Abwertung des «Anderen» ist ein sozialer Grenzziehungsprozess. Die Abwertung stärkt immer auch das «Eigene». Deshalb sind solche Grenzziehungsprozesse innerhalb der Gesellschaft sehr stabil (17) (weitere Ausführungen zu sozialen Grenzziehungsprozessen finden sich hier).
 

Diskriminierung kann zwischen Individuen stattfinden. Sie kann aber auch innerhalb von Institutionen aufgrund von Vorgaben, Regeln, Gewohnheiten und Normalitätsvorstellungen auftreten. (18) Im zweiten Fall sprechen wir von «Institutioneller Diskriminierung», die hier genauer erklärt ist.

Personen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, nehmen diese oft nicht wahr. Für Betroffene ist sie hingegen sehr verletzend. Dies gilt insbesondere dann, wenn niemand darauf reagiert. Denn dadurch wird Diskriminierung gesellschaftlich akzeptiert. (19) Diskriminierung entsteht z.B. durch herablassende oder ausgrenzende Bemerkungen oder durch negative Handlungen von Kindern gegenüber anderen Kindern. Das kann sehr subtil geschehen. Dies und die gesellschaftliche Akzeptanz machen es für Betroffene schwierig, sich dagegen zu wehren. (20) Wenn sich hingegen ein Schulteam klar gegen Diskriminierung ausspricht, unterstützt es Schülerinnen und Schüler, Eltern und Mitarbeitende der Schule, die davon betroffen sind. Es fungiert als Vorbild, wie man sich gegen Diskriminierung wehren kann. Und es sensibilisiert auch nicht betroffene Schülerinnen und Schüler sowie Eltern auf mögliche Ausgrenzungserfahrungen. (21) Mit einer solch klaren Haltung kann ein Schulteam dafür sorgen, dass sich alle Akteurinnen und Akteure einer Schule in ihrer Eigenart respektiert fühlen und dass sie an der Schule erfolgreich unterrichten, lehren und lernen können. (22)
 

Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesse stehen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Narrativen und Hierarchien. Wenn Schulen sie nun ausschliesslich verbieten und sanktionieren, übertragen sie die Verantwortung auf die Schülerinnen und Schüler. Den gesellschaftlichen Aspekt blenden sie hingegen aus. (23). Um gegen Diskriminierung vorzugehen und Schülerinnen und Schüler gleichzeitig für die vorhandenen Prozesse zu sensibilisieren, ist ein Vorgehen in vier Schritten möglich, das wir hier beschrieben haben.

Förderung sozialer Zugehörigkeiten

Halten Schulen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozessen entgegen, fördern sie die soziale Zugehörigkeit aller Beteiligten. Dies tun sie, indem sie es als normal betrachten, dass Kinder verschieden sind und indem sie Partizipationsmöglichkeiten aktiv fördern.

Panesar (2022) nennt in Anlehnung an Mai-Anh Boger (2017) drei Bedürfnisse von Menschen mit Marginalisierungs-, Unterdrückungs- oder Othering-Erfahrungen. Wir führen diese Bedürfnisse im Folgenden aus und zeigen auf, wie Schulen sie berücksichtigen können:

Normalisierung
 

Schülerinnen und Schüler und deren Eltern haben das Bedürfnis, bei den als normal betrachteten Menschen dabei sein zu dürfen. Normalisierung bedeutet, diesem Bedürfnis zu entsprechen. (24) Um dies zu erreichen, können Schulen das sogenannt «Normale» ausweiten. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer Haltung, die «Vielfalt als Normalität» betrachtet.
 

Konkret bedeutet dies, dass Schulen den Alltag und die Lernumgebung bewusst so gestalten, dass sich alle Schülerinnen und Schüler in ihrem Aussehen, ihrer Sprache, ihren Erfahrungshintergründen und Bezugsgruppen selbstverständlich im Schulalltag wiederfinden, z.B. in Beschriftungen, Materialien und Sprechweisen. (25) So sind Bücher in verschiedenen Sprachen im Klassenzimmer und in der Schulbibliothek vorhanden. Lehrpersonen nehmen im Unterricht Bezug zu verschiedenen Sprachen (vgl. Mehrsprachigkeit – Ideen für die Praxis). In den ausgewählten Büchern spielen unterschiedliche Kinder eine Hauptrolle. Kinder mit Migrationsgeschichte handeln aktiv und warten nicht passiv auf Hilfe (vgl. Idee «Diversitätssensible Kinderbücher»). Zudem stehen Spielfiguren (Lego und Playmobil) mit sehr unterschiedlichem Aussehen zur Verfügung. Und schliesslich kommen in Geschichten und Aufträgen viele verschiedene Namen vor. Damit Lehrpersonen dabei nicht unverhofft in Stereotypisierungen verfallen, brauchen sie einen diversitätssensiblen Blick auf ihre Handlungen (vgl. Idee «Vorurteilsbewusste Lernumgebung»). Diversitätssensibilität bedeutet u.a., dass sich Lehrpersonen bewusst sind, dass Unterschiede nicht einfach «natürlich» gegeben sind, sondern dass sie auch gesellschaftlich konstruiert und bewertet sind. Es bedeutet ausserdem, dass sich Lehrpersonen immer wieder folgendes bewusst machen: Individuen bilden ihre Identität anhand mehrerer Bezüge aus. Und jedes Individuum gewichtet die einzelnen Bezüge unterschiedlich. Neben der natio-ethno-kulturellen Herkunft gehören dazu z.B. auch familiäre Bezüge (Familienkonstellation, Familienformen), körperliche und geistige Fähigkeiten, Sprachen oder der Wohnort. Gerade letzterer kann einen hohen identitätsstiftenden Aspekt haben, wenn Kinder z.B. in einer Wohnsiedlung aufwachsen, in der sie sich zugehörig zur Nachbarschaft erleben. Mit zunehmendem Alter werden auch die Freizeitgestaltung (Peergruppen, Sportvereine, Jugendorganisationen usw.) oder die Bildung immer wichtiger (vgl. Diversitätsrad bei den Hintergrundinformationen zu Diversität).
 

Expliziter weiten Lehrpersonen die «Normalität» aus, indem sie gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern über verschiedene Sprachen, Familienkonstellationen oder Lebensweisen nachdenken. Und wenn sie dabei vermitteln, dass unterschiedliche Möglichkeiten vorhanden sein dürfen. (26)
 

Die «Normalität» zu erweitern, bedeutet also, dass Schülerinnen und Schüler in ihren Mehrfachzugehörigkeiten wahrgenommen werden und dass sie über ihre Gruppenzugehörigkeiten mitentscheiden. (27)
 

Schliesslich gilt für die Haltung «Vielfalt als Normalität», dass Schulen ihren Unterricht grundsätzlich als Förderunterricht betrachten. Dies erreichen sie beispielsweise durch eine starke Binnendifferenzierung, so dass alle Schülerinnen und Schüler selbstverständlich am Unterricht partizipieren können (vgl. Idee «Lernförderliche Rückmeldungen»). Oder sie gestalten jeglichen Unterricht immer auch aus einer Perspektive für Lernende von Deutsch als Zweitsprache (28), indem sie den Unterricht u.a. sprachbewusst planen und umsetzen (vgl. Idee «Sprachbewusster Unterricht – Rituale» und Idee «Sprachbewusster Unterricht – Thema Luft»).
 

Auch mit der Haltung «Vielfalt als Normalität» ist es wichtig, dass Schulen mögliche Grenzziehungsprozesse aufmerksam beobachten. Denn gerade in Kontexten, in denen Vielfalt als selbstverständlich gilt, ist es für Schülerinnen und Schüler, die trotzdem Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren, umso schwieriger, darauf hinzuweisen. Panesar (2022) erachtet es für Schulen als hilfreich, «eine Sprache zu benutzen, die vom gemeinsamen Ringen, dem Fragenstellen, sich Bemühen und gemeinsamen Wollen in Richtung Gerechtigkeit geprägt ist» (S. 23).
 

Dekonstruktion
 

Schülerinnen und Schüler und deren Eltern haben das Bedürfnis, als Individuum gesehen zu werden, ohne eine Zuschreibung des Andersseins zu erfahren. Dekonstruktion heisst, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Es geht darum, zu erkennen, dass Kategorisierungen auch gesellschaftlich konstruiert sind (siehe oben). Ist man sich dessen bewusst, kann man sie dekonstruieren, also abbauen. Konkret heisst das, dass Schulleitungen und Lehrpersonen Kinder und Eltern z.B. einfach als spezifische Familie wahrnehmen und nicht als Vertretende von bestimmten Gruppen, z.B. als Familie Meier und nicht als «Bildungsferne» oder als Familie Demirci und nicht als «Fremdsprachige». (29)
 

Das bedeutet für eine Schule z.B., dass sich Lehrpersonen und Schulleitende aktiv und kritisch über Sprachhierarchien austauschen. Sie beziehen unterschiedliche Sprachen also nicht nur in den Unterricht ein (siehe oben), sondern reflektieren auch darüber, dass die Sprachen gesellschaftlich unterschiedlich bewertet werden. Und sie denken darüber nach, wie sich diese Bewertung auf ihre Wahrnehmung auswirkt. «Als wie wertvoll beurteile ich die Sprachkompetenzen meiner Schülerinnen und Schüler in ihren verschiedenen Erstsprachen?» könnte eine Frage lauten. Oder sie überlegen sich, welche Machtpraktiken, Sprechweisen und Handlungen an ihrer Schule vorhanden sind, die bestimmte Gruppen marginalisieren könnten. (30) So verweist die Bezeichnung DaZ-Kind beispielsweise auf ein Defizit, welches ein Kind von anderen Kindern unterscheidet. Sprechen Lehrpersonen hingegen von Lernenden, die den DaZ-Unterricht besuchen, benennen sie den Unterrichtsinhalt und machen das Lernen von Deutsch als Zweitsprache nicht zu einem Identitätsaspekt, der das «Anderssein» betont.
 

Empowerment
 

Schülerinnen und Schüler haben schliesslich das Bedürfnis, ihre Einzigartigkeit zeigen zu dürfen, ohne sich verstecken oder anpassen zu müssen. Empowerment bedeutet, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Schulen ermöglichen damit, dass die Schülerinnen und Schüler so sein dürfen, wie sie sind, auch wenn sie nicht dem Mainstream entsprechen. Es geht darum, dass die Schulen (Schutz)Räume schaffen, in denen alle ihre Besonderheiten leben dürfen. (31) Möglich wären beispielsweise Gespräche, in denen sorgfältig unterschiedliche Perspektiven besprochen werden, Pausenangebote für Kinder, die nicht Fussballspielen wollen oder unterschiedliche Lernangebote.
 

Mit Bezug zur individuellen Anerkennung nach Honneth (1992) weisen auch Helsper & Lingkost (2002) darauf hin, wie bedeutsam es ist, dass Schülerinnen und Schüler in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit Anerkennung und Wertschätzung von Personen erfahren, die ihnen wichtig sind. In der Schule sind dies v.a. die Lehrpersonen und die Peers. Dabei gilt auch hier, sich über vorhandene Machtverhältnisse bewusst zu sein. Merkmale, die Schülerinnen und Schüler mit der eigenen Identität verknüpfen, sind mit mehr oder weniger Prestige verbunden. Schulen können sich diesbezüglich auf einem Kontinuum bewegen: Auf der einen Seite besteht eine Haltung, die Unterschiede hierarchisiert. Auf der anderen Seite besteht eine Haltung, die Unterschiede eher gleichwertig anerkennt. Inwieweit Schulen in die eine oder andere Richtung tendieren, ist für die herrschende Schulkultur von grosser Bedeutung. (32) «Für die Ausformung der Schulkultur ist daher zentral, welche Schüler, mit welchen Formen der Selbstdarstellung, mit welchen Lebensstilen und Lebensführungsprinzipien Anerkennung erfahren und welche entwertet und sozial beschämt werden» (Helsper & Lingkost, 2002, S. 136).
 

Den drei beschriebenen Bedürfnissen können Schulen durch Normalisierung, Dekonstruktion und Empowerment nicht unbedingt gleichzeitig nachkommen. Wenn Schulen beispielsweise Benachteiligungen entgegenwirken wollen, müssen sie diese Benachteiligungen mitunter benennen. Anstatt zu dekonstruieren gereifen sie dann auf vorhandene Kategorisierungen zurück. (33) Dabei lohnt es sich, über die Art der Benennung nachzudenken und sie möglichst so zu formulieren, dass die Betroffenen nicht darauf festgeschrieben werden und als «anders» bezeichnet werden. Weiter lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob die Benachteiligung tatsächlich mit der benannten Kategorisierung in Zusammenhang steht. So werden schwache Leistungen z.B. oft auf einen sogenannten «Migrationshintergrund» oder die «Mehrsprachigkeit» zurückgeführt. Solche Aussagen beachten nicht, dass die mangelnde Leistung möglicherweise mit Aspekten zusammenhängt, die bei allen Lernenden vorhanden sein können wie allgemeine Entwicklungsverzögerungen, fehlende Arbeitsstrategien oder mangelnde Motivation.   
 

«Es gilt demnach, kontextspezifisch zu schauen, ob in einer Situation Normalisierung, Dekonstruktion oder Empowerment wichtiger ist, und gegebenenfalls arbeitsteilig vorzugehen, anstatt sich gegenseitig auszuhebeln» (Panesar 2022, S. 47).

 

Wenn wir von sozialer Zugehörigkeit sprechen, ist schliesslich als letzter Punkt die Partizipation aller Beteiligten von Bedeutung. Nur wer das Recht auf Partizipation hat, gehört auch tatsächlich zu einer Gruppe oder Gemeinschaft. Wiederum mit Bezug auf Honneth (1992) (vgl. dazu auch Hintergrundinformationen Diversität) betrachten Helsper & Lingkost (2002) die Partizipationsverhältnisse als zentral für die Form der moralischen Anerkennung in der Schule. Es geht bei dieser Form der Anerkennung um eine gerechte Behandlung aller und damit um gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle. Dies gilt auch für die Partizipationsmöglichkeiten an einer Schule. Inwieweit und in welcher Form alle Schülerinnen und Schüler gleiche Chancen zur Partizipation haben, prägt eine Schulkultur massgeblich. Wenn formale Möglichkeiten zur Partizipation vorhanden sind, bedeutet dies möglicherweise noch nicht, dass auch tatsächlich alle partizipieren können. Es braucht zusätzlich pädagogisches Handeln, das sich an den jeweiligen Schülerinnen und Schülern sowie einer jeweiligen Situation orientiert. (34) Konkret heisst dies beispielsweise, dass an einer Schule ein Schülerinnen- und Schülerparlament regelmässig tagt (formale Möglichkeit). Beteiligt sind im Parlament diejenigen, die sich auch im Unterricht melden und die auf dem Pausenplatz das Sagen haben. Lehrpersonen können nun versuchen, z.B. auch zurückhaltende Kinder und Jugendliche zu ermutigen, im Parlament mitzuwirken. Möglicherweise reicht es, die Schülerinnen und Schüler zu motivieren. Möglicherweise braucht es Übungen im kleinen Rahmen, z.B. in Form des Klassenrats, damit sich mehr Schülerinnen und Schüler zutrauen, auch eine Aufgabe im Grossen zu übernehmen (pädagogisches Handeln). Massgebend ist dabei eine Haltung, die nicht nur unterstützt, sondern die davon ausgeht, «dass das Kind fähig ist, sich selbst zu führen, selbst zu partizipieren, selbst Verantwortung zu übernehmen» (Helsper & Lingkost, 2002, S. 137 mit Bezug auf Oser und Althoff 1994).
 

Partizipation aller Beteiligten ist also konstitutiver Bestandteil einer Schulkultur. Gleichzeitig bestimmt die Schulkultur, inwieweit Partizipation formal möglich ist und tatsächlich umgesetzt wird. (35) Wie Schulen Partizipation ermöglichen, haben wir hier beschrieben.  

  1. (1) vgl. Mantel et al. 2019, S. 43ff.; Truniger, 2009, S. 5

    (2) vgl. Hattie, 2009, S. 142f.

    (3) vgl. ebd., S. 141

    (4)vgl. ebd., S. 153

    (5) vgl. ebd., S. 126f.

    (6) vgl. Helsper & Lingkost, 2002, S. 132f.

    (7) vgl. Kegler, 2018, S. 117f.

    (8) vgl. Mantel, 2019, S. 45; Sträuli & Truniger, 2000, S. 122

    (9) vgl. Sträuli & Truniger, 2000, S. 123; Truniger, 2009, S. 5

    (10) vgl. Sträuli & Truniger, 2000, S. 124f.

    (11) vgl. Mantel et al. 2019, S. 85

    (12) vgl. Sträuli & Truniger, 2000, S. 119–121

    (13) vgl. Mantel et al., 2019, S. 41; Sträuli & Truniger, 2000, S. 118

    (14) vgl. Truniger, 2009, S. 5

    (15) vgl. Sträuli & Truniger, 2000, S. 121

    (16) vgl. Panesar, 2022, S. 28; 32

    (17) vgl. Mantel et al., 2019, S. 43

    (18) vgl. Gomolla & Radtke, 2009, S. 275; Panesar, 2022, S. 27

    (19) vgl. Mantel et al. 2019, S. 42 mit Bezug auf Wagner 2009

    (20) vgl. ebd., S. 43

    (21) vgl. ebd., S. 43 mit Bezug auf Wagner 2009 und Huschitt & Sturm-Schuber, 2009, S. 41

    (22) vgl. Sträuli & Truniger, 2000, S. 121

    (23) vgl. Mantel et al., 2019, S. 66

    (24) vgl. Panesar, 2022, S. 44

    (25) vgl. Mantel et al., 2018, S. 83f.; Panesar, 2022, S. 44

    (26) vgl. Mantel et al., 2019, S. 47

    (27) vgl. Panesar, 2022, S. 44f.

    (28) vgl. ebd., S. 45f.

    (29) vgl. ebd., S. 45

    (30) vgl. ebd., S. 45

    (31) vgl. ebd., S. 44–46

    (32) vgl. Helsper & Lingkost, 2002, S. 136

    (33) vgl. Panesar, 2022, S. 46

    (34) vgl. Helsper & Lingkost, 2002, S. 133f. mit teilweise Bezug auf Oser und Althof 1994, Oser 1998, Kohlberg 1986

    (35) vgl. ebd., 2002, S. 132

Verwendete Literatur

Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von "Visible Learning" besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer (2. Aufl.). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

 

Helsper, W. & Lingkost, A. (2002). Schülerpartizipation in den Antinomien von Autonomie und Zwang sowie Organisation und Interaktion - exemplarische Rekonstruktionen im Horizont einer Theorie schulischer Anerkennung. . In B. Hafeneger, P. Henkenborg & A. Scherr (Hrsg.), Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. (S. 132-156). Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag.

 

Kegler, U. (2018). Lob den Lehrer*innen. Wer Beziehungen stärkt, macht Schule gut. Ein Weckruf. Weinheim Basel: Beltz Verlag.

 

Mantel, C., Aepli, M., Büzberger, M., Dober, H., Hubli, J., Krummenacher, J., ... Puškarić, J. (2019). Auf den zweiten Blick. Eine Sammlung von Fällen aus dem Schulalltag zum Umgang mit migrationsbezogener Vielfalt. Bern: hep.

 

Panesar, R. (2022). Gerechte Schule. Vorurteilsbewusste Schulentwicklung mit dem Anti-Bias-Ansatz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

 

Sträuli, B. & Truniger, M. (2000). Schulkultur – Die Anerkennung des anderen. In S. Mächler (Hrsg.), Schulerfolg: kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld (S. 118–129). Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich.

 

Truniger, M. (2009). Förderung der sozialen Integration – ein Handlungsfeld von QUIMS. QUIMSNachrichten, 1, 4–7.

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