In der Primarschule Aemtler der Stadt Zürich sind die vielen verschiedenen Erstsprachen selbstverständlicher Teil im schulischen Alltag, denn viele Schülerinnen und Schüler wie auch Mitarbeitende haben eine andere Erstsprache als Deutsch. Die Schule pflegt eine offene Haltung gegenüber allen Erstsprachen und fördert diese mit verschiedenen Angeboten. Dazu gehören die Leselust-Wochen, die Erzählnacht, Unterstützungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern und das Angebot verschiedener Kurse in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK-Kurse), die z.T. während der regulären Unterrichtszeit stattfinden.

Text: Dominique Braun
Empfohlen für Zyklus 1 und 2

Beschreibung der Idee

LeLu – Leselust-Wochen

Überall sitzen und liegen lesende Kinder – im Korridor, auf Sofas in den Schulzimmern, auf Matten in der Turnhalle, auf Treppenstufen. Während zweimal zwei Wochen im Jahr lesen die Kinder jeden Tag 30 Minuten in einem Buch als Start in den Tag.

Leselust-Wochen in der Primarschule Aemtler, Zürich. Aufnahme Mirjana Dragic
Leselust-Wochen in der Primarschule Aemtler, Zürich. Aufnahme Mirjana Dragic
Leselust-Wochen in der Primarschule Aemtler, Zürich. Aufnahme Mirjana Dragic
Leselust-Wochen in der Primarschule Aemtler, Zürich. Aufnahme Mirjana Dragic

Das Ziel ist, die Freude am Lesen zu wecken und die Kinder zum Lesen zu animieren. Zu einer umfassenden Förderung der Literalität gehört auch das Lesen in der Erstsprache (vgl. Hintergrundinformationen Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt). So sind die Kinder explizit aufgefordert, auch Bücher der eigenen Erstsprache auszuwählen. Die Kinder bringen, wenn möglich, Bücher von zu Hause mit. Alternativ leihen sie Bücher in der Schulbibliothek oder in den städtischen Bibliotheken im Quartier aus. Diese verfügen über ein grosses mehrsprachiges Bücherangebot. Einige Lehrpersonen gehen vorgängig mit der ganzen Klasse in die Bibliothek, um mit den Kindern geeignete Bücher auszusuchen. Andere Lehrpersonen motivieren die Kinder für einen selbständigen Bibliotheksbesuch.
 

Während der Leselust-Wochen arbeiten auch HSK-Lehrpersonen punktuell mit. Beispielsweise liest der HSK-Lehrer für Albanisch an einem Vormittag mit zwei Albanisch sprechenden Kindern in der Schulbibliothek in einem albanisch geschriebenen Buch. Seit dem letzten Schuljahr sind auch Mitarbeitende aus der Betreuung involviert. Sie erzählen im Kindergarten während der Leselust-Wochen eine Geschichte in ihrer Erstsprache.

«Viele von ihnen sprechen neben Deutsch noch eine andere Sprache. Diese wollten wir einbeziehen, nicht nur zum Geschichtenerzählen, sondern zum Beispiel auch, um unsere Schulleitungsbriefe zu übersetzen»,

sagt Lilian Baumgartner, Schulleiterin der Primarschule Aemtler.

In der Klasse von Mirjana Dragic, ehemalige HSK-Lehrerin für Kroatisch und seit 20 Jahren Klassenlehrerin an der Primarschule Aemtler, führen die Kinder zudem einen Lesepass. Sie tragen nach jeder Lesesequenz ein, in welchem Buch sie welche Seiten gelesen haben und notieren die wichtigsten Inhalte. Das Gelesene festzuhalten, fördert ein konzentriertes Lesen und ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, am nächsten Tag wieder besser anzuknüpfen.

Eintrag in den Lesepass. Aufnahme Mirjana Dragic
Eintrag in den Lesepass. Aufnahme Mirjana Dragic

Erzählnacht

Wegen der Einschränkungen aufgrund von COVID-19 findet 2021 die alljährliche Erzählnacht innerhalb des Klassenverbands statt. Trotzdem wollen Lehrpersonen und Schulleiterinnen die HSK-Lehrpersonen mit deren Erstsprachen einbeziehen. Die Schülerinnen und Schüler wünschen, dass sie in ihren Klassen bleiben dürfen und nicht in einzelne Sprachgruppen eingeteilt werden. Die HSK-Lehrpersonen unterstützen deshalb die Klassenlehrpersonen in deren Klassen. Sie erzählen dort, gemeinsam mit der Klassenlehrperson, eine Geschichte – z.B. im Wechsel zwischen der jeweiligen Erstsprache und Deutsch.
 

Ein ähnliches Projekt hat die Schule bereits einmal durchgeführt. Damals hat eine HSK-Lehrperson eine Geschichte in Türkisch erzählt und dazu viele Bilder gezeigt. Die nicht-türkischsprachigen Kinder seien danach stolz nach Hause gegangen und hätten erzählt, sie könnten nun Türkisch. Die HSK-Lehrerin hatte die Geschichte so anschaulich erzählt, dass die Kinder sie auch ohne Türkischkenntnisse verstanden hatten. Die türkischsprachigen Kinder erfuhren durch die Einbindung ihrer Erstsprache Anerkennung. Für die anderen Kinder war es spannend, Türkisch zu hören.

Individuelle Unterstützung von Kindern und Eltern in der Erstsprache

Mit dem Projekt Brückenbauer können Klassenlehrpersonen für neuzugezogene Kinder von ausserhalb der Schweiz die Unterstützung von HSK-Lehrpersonen oder Mitarbeitenden aus der Betreuung beanspruchen.

«Vor Kurzem bekamen wir die Meldung, dass ein Kind in die 5. Klasse kommen werde, welches aus Kuba komme und noch kein Wort Deutsch spreche. Wir fragten eine Betreuungsmitarbeiterin mit Erstsprache Spanisch an, ob sie bereit wäre, eine Lektion pro Tag im Unterricht unterstützen zu gehen. Dies unterstützt nicht nur das Kind, sondern fördert gleichzeitig die Zusammenarbeit der Bereiche Unterricht und Betreuung.» (Lilian Baumgartner, Schulleiterin Primarschule Aemtler).
 

Auch für Übersetzungen während Elterngesprächen fragen Lehrpersonen und Schulleitung oft die HSK-Lehrpersonen an. Einige HSK-Lehrpersonen der Primarschule Aemtler haben eine entsprechende Ausbildung als Interkulturell Vermittelnde. Der Vorteil ist, dass sie die Schule gut kennen und so Besonderheiten der Schule leicht aufzeigen können.
 

Eine zusätzliche Unterstützung bieten Betreuungsmitarbeitende mit einer anderen Erstsprache als Deutsch. Sie wirken als Kontaktpersonen für Eltern aus demselben ethno-kulturellen Herkunftskontext. Als beispielsweise mehrere Familien aus Eritrea zugezogen sind, hat eine Betreuerin, die ebenfalls aus Eritrea stammt und Tigrinya spricht, viele Fragen der Eltern beantwortet. Die Hemmschwelle für die Eltern war viel tiefer, dieser Mitarbeiterin Fragen in ihrer Erstsprache zu stellen als sie an eine Lehrperson zu richten. Benötigen die Schulleiterinnen Elternbriefe in verschiedenen Erstsprachen, greifen sie ebenfalls auf die Ressourcen von Betreuungspersonen zurück. Wie im Fall der HSK-Lehrpersonen kennen auch die Betreuungsmitarbeitenden die konkrete Schule und verfügen über viel internes Wissen, das sie weitergeben können. Sie nehmen so eine zusätzliche wichtige Brückenfunktion wahr und erfahren auch selbst zusätzliche Anerkennung. Die Gespräche und schriftlichen Übersetzungsleistungen gelten als Arbeitszeit, auch wenn sie nur kurz dauern.

HSK im Regelstundenplan integriert

Drei Erstsprachen – Albanisch, Italienisch und Serbisch – bietet die Primarschule Aemtler als integrierte HSK-Kurse an. Integriert bedeutet, dass die Kurse im Schulhaus selbst stattfinden. In der Unterstufe besuchen die Schülerinnen und Schüler die HSK-Kurse am Dienstag- oder Donnerstagnachmittag, wenn die eigene Halbklasse frei hat. Bei der Einteilung in Halbklassen achtet die Lehrperson darauf, dass einem Kind der Besuch von HSK ermöglicht wird. In der Mittelstufe findet HSK am Freitagnachmittag während des Unterrichts statt. Die meisten Kinder der Schule mit einer anderen Erstsprache als Deutsch besuchen den HSK-Unterricht.
 

Die Haltung des Teams den integrierten HSK-Lektionen gegenüber ist positiv. Kritische Stimmen gibt es, wenn überhaupt, nur aus organisatorischer Sicht, weil die integrierten HSK-Kurse die komplexe Stundenplanung noch komplexer machen. «Sind kritische Stimmen zu hören, betone ich jeweils, wie wichtig es ist, die Erstsprache zu fördern», sagt Mirjana Dragic, HSK-Verantwortliche an der Schule. Als ehemalige HSK-Lehrerin und jetzige Klassenlehrerin weiss sie, wovon sie spricht.

So kann es gelingen

Offene Haltung gegenüber allen Erstsprachen

«Wir sind eine QUIMS-Schule (1), bei uns ist es ganz normal, verschieden zu sein. Wer sich bei uns bewirbt, weiss dies und bringt eine offene Haltung Menschen anderer Kulturen gegenüber mit. Meine Schulleitungskollegin, Frau Meier und unser Leiter Betreuung, Herr Frei und ich sind überzeugt, dass es gut ist, wenn ein Team möglichst divers ist, nicht nur bezüglich kultureller Hintergründe, sondern in allen Bereichen, deshalb achten wir bei der Personalrekrutierung bewusst darauf.» (Lilian Baumgartner, Schulleiterin Primarschule Aemtler, Zürich).
 

Im Gespräch mit der HSK-Verantwortlichen und der Schulleiterin wird deutlich, dass sich diese Schule bewusst ist, wie wichtig eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Erstsprachen ist und dass es nicht reicht, einzelne Sprachen nur punktuell einzubeziehen. Die Akteurinnen und Akteure der Schule scheinen immer wieder neu danach zu fragen, wie sie mit unterschiedlichen Angeboten alle Sprachen einbeziehen können und wie sie mit Vertretenden verschiedener Sprachgruppen zusammenarbeiten können, um alle Kinder und Eltern zu unterstützen.
 

Will eine Gemeinde den HSK-Unterricht im Regelstundenplan integrieren, braucht es ein Commitment für eine umfassende Erstsprachenförderung. Für eine breite Akzeptanz der Integration braucht es eine Haltung, die davon ausgeht, dass die Schülerinnen und Schüler in diesen Lektionen nicht in erster Linie etwas im Regelunterricht verpassen, sondern etwas Wichtiges im HSK-Unterricht lernen. Eine solche Haltung kann weder verordnet werden noch entsteht sie von heute auf morgen. Wie in allen Haltungs- und Schulentwicklungsfragen braucht es Zeit und auch Diskussionen, wie z.B. mit allfälligen Lernlücken umgegangen wird oder wie unterschiedliche Angebote hierarchisch zueinander stehen.   

Zusammenarbeit

Arbeiten Personen zusammen, die sich in ihren Aufgaben und Rollen, ihrem Wissen, ihren Erfahrungen und ihren Anstellungsbedingungen unterscheiden, sind Begegnungen auf Augenhöhe bedeutsam. Dazu brauchen die Beteiligten Gefässe, um gemeinsam zu planen, zu reflektieren und auszuwerten. So können alle voneinander lernen.
 

Die Funktion der HSK-Verantwortlichen ist zentral. Sie ist Dreh- und Angelpunkt aller Themen, die HSK betreffen. Zusätzlich tauscht sie sich mit den HSK-Verantwortlichen anderer Schulen im Schulkreis an der jährlichen Sitzung aus. In der Primarschule Aemtler kommt förderlich hinzu, dass Mirjana Dragic als ehemalige HSK-Lehrerin unterschiedliche Perspektiven kennt. Sie kann verschiedene Sichtweisen einbringen, was eine gute Zusammenarbeit fördert.

Ressourcen und Rahmenbedingungen

Die Primarschule Aemtler profitiert finanziell von ihrer Beteiligung am Programm QUIMS (Qualität in multikulturellen Schulen) des Kantons Zürich. Zudem haben HSK-Lehrpersonen, welche bei der Stadt Zürich angestellt sind, wie alle anderen Lehrpersonen, einen Berufsauftrag. Dieser Auftrag beinhaltet neben der Unterrichtstätigkeit auch die Zusammenarbeit mit Eltern und Aufgaben im Team. Können Schulen nicht auf solche personellen und finanziellen Ressourcen zurückgreifen, ist eine umfassende Einbindung der Erstsprachen einiges schwieriger. Dies gilt insbesondere für die gezielte, zusätzliche Förderung und die Unterstützung in der Erstsprache. Möglicherweise können Schulen in diesem Fall Stunden aus ihrem Pensenpool verwenden, um alle einbezogenen Personen adäquat zu entlöhnen.
 

Möglich ist zudem für jede Schule, die Erstsprachen anhand von Leselust-Wochen, der Erzählnacht und weiteren Ideen umfassend einzubeziehen. Damit die Erstsprachen einen dauerhaften Platz im schulischen Alltag bekommen, setzen Schulen z.B. eine Arbeitsgruppe ein, analog zu Arbeitsgruppen für andere wichtige Themen. Beziehen sie dann doch weitere Personen für solche Unterrichtsprojekte mit ein, können sie diese evtl. über Projektkredite entschädigen.
 

Zudem kann jede Schule darüber nachdenken, wer sich aus dem Team oder dem nahen Umfeld der Schule für eine Brücken- oder Unterstützungsfunktion besonders gut eigenen würde (z.B. HSK-Lehrpersonen, Klassen- und Fachlehrpersonen, Personen aus der Betreuung, ehemalige Schülerinnen und Schüler, engagierte Eltern usw.). Die Primarschule Aemtler überlegt laufend, welche individuellen Ressourcen die Mitarbeitenden mitbringen (vgl. Auswahl der HSK-Verantwortlichen). Dadurch ist die Idee entstanden, einzelne Betreuungspersonen stärker in die Zusammenarbeit mit Eltern oder in die Integration der Erstsprachen in den Unterricht einzubeziehen.

  1. (1) QUIMS steht für Qualität in multikulturellen Schulen und ist ein Schulprogramm im Kanton Zürich, das Schulen mit einer ausgeprägt heterogenen Schülerschaft finanziell und fachlich unterstützt  www.zh.ch/de/bildung

Materialien und Links

Möchte eine Schule ihr Angebot an mehrsprachigen Büchern ausbauen, kann sie mehrsprachige Bücher zu einem bestimmten Thema bei bibliomedia schweiz bestellen.

Kontakt

Lilian Baumgartner
Schulleitung Primarschule Aemtler, Zürich
Mail schicken
 

Barbara Meier
Schulleitung Primarschule Aemtler, Zürich
Mail schicken
 

Dominique Braun
Dozentin, PH Zug
Mail schicken

 

Sprachen sichtbar machen

Eine Schulkultur, die alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler anerkennt und wertschätzt, macht diese Sprachen sichtbar:

Mehrsprachigkeit als Normalität

Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit bezieht alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit ein. Sie ermöglicht ihnen Sprachbegegnungen und lässt sie über Sprache nachdenken:

Erstsprachen fördern

Nicht-deutsche erstsprachliche Kompetenzen und jeweilige bildungssprachliche Fähigkeiten können auch in der Regelklasse gefördert werden, idealerweise in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen des Unterrichts in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK):

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