Eine Lehrperson bezieht viele Sprachen in ihren Unterricht ein, um auf die Sprachenvielfalt aufmerksam zu machen. Der Vorlesestift bietet allen Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, Begriffe, Sätze und Geschichten in diesen unterschiedlichen Sprachen wiederholt zu hören. Kindern mit Deutsch als Zweitsprache ermöglicht der Stift zudem, eine Geschichte im Klassenverband besser zu verstehen oder ihren Wortschatz in Deutsch zu erweitern.
Text: Dominique Braun
Empfohlen für Zyklus 1
Eine mehrsprachige Klassenbibliothek umfasst auch Bilderbücher in verschiedenen Sprachen. Möchte eine Lehrperson, dass die Schülerinnen und Schüler diese Geschichten in den verschiedenen Sprachen auch hören können, hat sie verschiedene Möglichkeiten.
Am authentischsten ist es natürlich, wenn Eltern, HSK-Lehrpersonen (Lehrpersonen für Heimatliche Sprache und Kultur) oder ältere Schülerinnen und Schüler die Geschichten in ihrer Erstsprache erzählen. Da diese Personen im Schulalltag nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehen, kann die Lehrperson auf einen Vorlesestift zurückgreifen. Auf Vorlesestiften können Lehrpersonen Sprachaufnahmen abspeichern. Sie koppeln die Aufnahme mit einem Kleber, der an einer Stelle in einem Buch oder auf einem Blatt/Plakat angebracht wird. Wollen die Kinder die Aufnahme abspielen, tippen sie mit dem Stift auf den Punkt und hören die Aufnahme. Pro Sprache muss ein Punkt angebracht werden. Die Lehrperson nimmt auf dem Stift ganze Geschichten, einzelne Wörter und Begriffe oder Sätze in einer gewünschten Sprache auf. Idealerweise arbeitet sie für diese Aufnahmen mit Eltern und HSK-Lehrpersonen zusammen.
Oder die Lehrperson möchte die Geschichte, die sie der ganzen Klasse erzählt, auch in den Erstsprachen der Kinder zur Verfügung stellen. Auch in diesem Fall nimmt sie die Geschichte oder wichtige Schlüsselbegriffe in den Erstsprachen der Kinder auf dem Stift auf und bringt an der entsprechenden Stelle im Buch eine Markierung an. Tippt das Kind mit dem Stift auf die Markierung, hört es die Erzählung, den Satz oder den Begriff in seiner Erstsprache. Kinder mit noch wenig Deutschkenntnissen können die Geschichte vorgängig in ihrer Erstsprache hören. Dadurch können sie der Erzählung im Klassenverband eher folgen und fühlen sich möglicherweise stärker zugehörig. Alle anderen Kinder haben die Gelegenheit, die Geschichte ebenfalls in ihrer Erstsprache zu hören oder den Erstsprachen ihrer Gspändli zu lauschen.
Janina Kälin-Wiezorek setzt diese Idee in ihrer Klasse um. Sie führt ein Bilderbuch in ihrer Basisstufe mehrsprachig ein. Zwei Mütter nehmen den Buchtext in ihrer jeweiligen Erstsprache auf dem Vorlesestift auf. Zudem erzählen sie den Kindern den ersten Teil der Geschichte live. Das sorgt zum Teil für Verwirrung, weil die Kinder vieles nicht verstehen. Aus der Verwirrung entwickelt sich ein Klassengespräch darüber, wie es sich anfühlen kann, wenn man nicht alles versteht. Anschliessend erzählt die Lehrerin die Geschichte im Dialekt und in Standardsprache. Die Kinder hören gut heraus, dass jede der vier Sprachen ihre eigene Melodie hat. Danach können die Kinder die Geschichte mit Hilfe des Vorlesestifts mehrmals und in den verschiedenen Sprachen hören.
«Dabei konnte ich mehrfach beobachten, wie die Kinder das Gehörte miteinander verglichen, nachzusprechen versuchten und sich darüber austauschten, wie das wohl in anderen Sprachen klingen würde.»
Janina Kälin-Wiezorek, Lehrperson Basisstufe
Die Kinder sind von den verschiedenen Sprachen so begeistert, dass sie im Klassenrat wünschen, in Zukunft mit jedem Buch auf diese Weise zu arbeiten.
Was ist eine Höhle? Was ist der Unterschied zwischen einem Reh und einem Hirsch? Wie bezeichnen wir die Tiere in der weiblichen, wie in der männlichen Form? Den Lehrpersonen in diesem Kindergarten ist es wichtig, dass die Kinder zum Jahresthema Wald über einen Fachwortschatz verfügen. So können sie differenziert über das Thema sprechen.
Sobald die Schlüsselbegriffe in der deutschen Sprache etwas gefestigt sind, beziehen die Lehrpersonen die Erstsprache von zwei Spanisch sprechenden Kindern mit ein. Es sind die einzigen Kinder in diesem Kindergarten, die nicht Deutsch sprechen.
«Mir war es wichtig, auf die Ressourcen dieser Kinder aufmerksam zu machen. Zu sagen, hey, ihr könnt etwas, das wir alle nicht können.»
Sarina Koch, DaZ- und IF-Lehrperson Kindergarten
Die Mutter der Kinder unterstützt die Idee und spricht die Schlüsselbegriffe auf Spanisch auf den Vorlesestift.
Auch wenn in einer Klasse nur wenige Kinder mehrsprachig sind, kann eine Lehrperson mehrere Sprachen miteinbeziehen. Oder sie integriert ganz bewusst auch Sprachen, die niemand in der Klasse spricht. Dadurch verhindert sie, dass sich die mehrsprachigen Kinder exponiert fühlen. Viele Kinder möchten möglichst so sein wie ihre Gspändli und fühlen sich unwohl, wenn Lehrpersonen auf ein Unterscheidungsmerkmal hinweisen. Deshalb ist es auch wichtig, dass die Kinder selbst entscheiden dürfen, inwiefern sie sich mit ihrer Mehrsprachigkeit und damit ihrer Ressource einbringen wollen.
Der Vorlesestift ermöglicht nun allen Kindern, die Schlüsselbegriffe in beiden Sprachen zu hören und zu vergleichen. Dazu haben die Lehrpersonen Schlüsselbegriff-Karten erstellt. Diese Karten enthalten zwei Spalten mit der jeweils selben Abbildung, z.B. ein Geweih. Neben jedem Bild befindet sich ein Punkt. Tippen die Kinder in der linken Spalte auf den Punkt, hören sie den Begriff in Deutsch, tippen sie in der rechten Spalte auf den Punkt, hören sie den Begriff in Spanisch. In einem Sachbuch können die Kinder den gehörten Begriff suchen
Erstellen Lehrpersonen Schlüsselbegriff-Karten in weiteren Sprachen, machen sie auf Sprachenvielfalt aufmerksam. Anstatt auf Karten können sie die Punkte für den Vorlesestift auch direkt in einem Sachbuch zum Wald anbringen. Dabei müssen sie für jede Sprache jeweils einen Punkt kleben. Idealerweise teilen sie einem Buch nur zwei bis drei Sprachen zu, damit die Bilder trotz Punkten noch erkennbar bleiben. Sie stellen den Kindern verschiedene Bücher zum Thema zur Verfügung, die jeweils unterschiedliche Sprachen «sprechen». Eine gut erschwingliche Alternative zu neuen Büchern sind Bücher aus dem Brockenhaus.
Schliesslich kann eine Lehrperson den Vorlesestift zur Wortschatzarbeit in der DaZ-Förderung nutzen. Sie bespricht den Stift mit Geschichten, mit Redemitteln aus dem Kindergartenalltag oder mit dem aktuellen Themenwortschatz. Weiter kann sie auf dem Stift ein Lied oder Sätze, die ein Wimmelbild beschreiben, aufnehmen. Der Vorteil solcher Aufnahmen ist, dass sie den Kindern uneingeschränkt zur Verfügung stehen und sie die vertraute Stimme der DaZ-Lehrperson hören, auch wenn diese abwesend ist. Denkbar ist zudem, dass die Kinder bei den Aufnahmen mithelfen, falls sie dies möchten.
Nehmen Lehrpersonen Begriffe, Redemittel oder ganze Geschichten auf dem Vorlesestift auf, stellen sie idealerweise mehrere Sprachen zur Verfügung. Dadurch machen sie auf eine allgemeine Sprachenvielfalt aufmerksam, die nicht an einzelne Kinder gebunden ist.
Auch lassen Lehrpersonen Kinder mit einer anderen Erstsprache als deutsch möglichst von sich aus und freiwillig auf die eigene Ressource verweisen. Damit verhindern sie, dass sie einzelne Kinder in den Fokus rücken oder zu «Expertinnen und Experten» machen und sich Kinder dadurch möglicherweise als «fremd» oder «nicht zugehörig» wahrgenommen fühlen. In der Fachsprache wird dies als «othering» bezeichnet. Weitere Ausführungen dazu sind hier zu finden.
Flaggensymbole bieten eine gute Orientierung, bergen aber das Risiko, dass Kinder Sprachen mit Nationen gleichsetzen, was für viele Sprachen nicht stimmt. Sie sind daher ein idealer Anlass, um mit den Kindern über Sprachenvielfalt zu sprechen:
In welchen anderen Ländern oder Regionen verwenden die Leute diese Sprache auch noch?
Welche weiteren Sprachen sprechen die Leute in diesem Land?
Anhand solcher Gespräche erkennen die Kinder, dass wir Sprache nicht mit Nationalität gleichsetzen können.
Idealerweise sind auf dem Vorlesestift vielfältige Aufnahmen vorhanden: Wörter verschiedener Wortarten, Satzteile, ganze Sätze oder ganze Geschichten. Dadurch erfahren die Kinder verschiedene Elemente, die eine Sprache ausmachen. Anhand längerer Aufnahmen erleben sie zudem die Sprachmelodie.
Die Kinder verstehen die Aufnahmen besser, wenn sie deutlich sind und keine Nebengeräusche zu hören sind. Je nach Alter eignen sich unterschiedlich lange Aufnahmen von Geschichten.
Dient der Vorlesestift v.a. dazu, den Wortschatz in Deutsch aufzubauen, sind Aspekte der Wortschatzarbeit zu beachten. Die Kinder erhalten Gelegenheiten, die Wörter und Begriffe mit Bildern, Bewegungen und Erklärungen zu verknüpfen und mit möglichst vielen Sinnen zu erleben, z.B. konkrete Gegenstände aus dem Wald, Nahrung der Tiere, ein echtes Geweih oder Vogelnest. Es geht darum, dass die Kinder Wörter und Begriffe mit Bedeutung füllen und begriffliche Verknüpfungen herstellen.
Damit Lehrpersonen die konkreten Inhalte aus dem Unterricht aufnehmen können, braucht es Vorlesestifte, die eigene Aufnahmen ermöglichen.
Vorlesestifte sind eine teure Anschaffung und in einer Klasse nicht uneingeschränkt vorhanden. Deshalb können nicht alle Kinder gleichzeitig damit arbeiten. Im Kindergarten bietet sich der Vorlesestift als etabliertes Freispielangebot oder als Morgenaufgabe an. In der Schule kann er z.B. im Rahmen von Postenarbeit oder beim individuellen Lesen eingesetzt werden.
Die Erfahrung zeigt, dass die Vorlesestifte – wenn sie frei zur Verfügung stehen – auch zwischendurch und spontan von den Kindern verwendet werden. Bei einem offenen Lernangebot haben die Kinder den Stift beispielsweise sehr unterschiedlich genutzt und eigene Spiele damit erfunden.
Neugebauer, C. & Nodari, C. (2017). Förderung der Schulsprache in allen Fächern. Praxisvorschläge für Schulen in einem mehrsprachigen Umfeld. (5. Aufl.). Bern: Schulverlag plus. Kapitel 4: Wortschatz
Selimi N. (2010). Wortschatzarbeit konkret. Eine didaktische Ideenbörse für alle Schulstufen. Hohengehren: Schneider.
Janina Kälin-Wiezorek
Primarschule Neudorf, Beromünster
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Dominique Braun
Dozentin, PH Zug
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Eine Schulkultur, die alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler anerkennt und wertschätzt, macht diese Sprachen sichtbar:
Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit bezieht alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit ein. Sie ermöglicht ihnen Sprachbegegnungen und lässt sie über Sprache nachdenken:
Nicht-deutsche erstsprachliche Kompetenzen und jeweilige bildungssprachliche Fähigkeiten können auch in der Regelklasse gefördert werden, idealerweise in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen des Unterrichts in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK):