Diversitätssensible Kinderbücher greifen vielfältige Lebenswelten und Kindheitserfahrungen auf und bieten Kindern Identifikationsmöglichkeiten. Bücher, die Vielfalt als Normalität darstellen, stärken das Selbstwertgefühl von Kindern, die sich in dieser Vielfalt wiedererkennen, und können ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Anerkennung vermitteln.
In diesem Text erfahren Sie mehr zum Thema vorurteilsbewusste und diversitätssensible Kinderbücher und darüber, welche Kriterien bei der Auswahl und der Bewertung von Büchern für den Unterricht hilfreich sind.
Text: Milena Bieri
Empfohlen für Zyklus 1, 2 und 3
Kinder erhalten schon im frühen Alter Botschaften darüber, wie Identitätsmerkmale von der Gesellschaft gewertet werden. Diese Merkmale können sich auf die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Hautfarbe, das Alter, die sexuelle Orientierung, auf Beeinträchtigungen und die soziale Situation beziehen. Kinder nehmen wahr, was sie in Büchern finden beziehungsweise nicht finden, und diese Vorstellungen und Repräsentationen verankern sich in ihren Selbst- und Weltbildern. Wenn beispielsweise in Kinderbüchern keine Ärztin mit Kopftuch abgebildet sind, scheint es sie nicht zu geben. Es liegt nahe, dass – ohne sichtbare Vorbilder – Kinder daraus schliessen, dass ein Mädchen, welches ein Kopftuch trägt, keine Informatikerin werden kann.(1) Darüber hinaus werden in manchen Büchern Menschen als ‹anders› markiert.
Sie sind die Zugewanderten, diejenigen, welche eine andere Sprache sprechen, diejenigen, die diskriminiert werden. Diese Geschichten haben oft das Ziel, für Ungleichheiten und Benachteiligungen zu sensibilisieren. Indem diese Unterschiede gegenüber der Mehrheitsgesellschaft jedoch betont werden, wirken solche Zuschreibungen ausgrenzend und verletzend, insbesondere dann, wenn die beteiligten Personen in eine Opferrolle gedrängt werden. Diese sozialen Grenzziehungsprozesse zwischen dem ‹Wir› und ‹den Anderen› werden als ‹Othering› bezeichnet.(2) Weitere Informationen zu ‹Othering› finden Sie auf der folgenden Seite. Es lohnt sich also, bezüglich der Sprache und der Bilder auch in der Schule und im Unterricht den Blick auf diversitätssensible und vorurteilsbewusste Bücher zu richten und sich bewusst zu werden, welche Botschaften Kinder darüber erhalten, welche Merkmale von der Gesellschaft besser oder weniger akzeptiert werden.(3)
«Kinder brauchen Bücher, in denen sie sich mit ihren äusseren Merkmalen und ihren Familien, mit ihren alltäglichen Erfahrungen, ihren leichten und schweren Gefühlen, ihrem Können und ihren Fragen wiederfinden».(4) Bücher, die Kindern vielfältige Identifikationsmöglichkeiten bieten, können diese in ihrer Identitätsentwicklung und ihrem Selbstwertgefühl stärken. Dies stellt die Grundlage dar, damit Kinder Einfühlungsvermögen in Bezug auf Menschen entwickeln können, die nicht den Normalitätsvorstellungen entsprechen. Kinder brauchen also Einblicke, welche über das eigene Lebensumfeld hinaus in die gesamte Welt hinaus reichen. «Sie brauchen ermutigende Beispiele von Menschen, die gegen Ungerechtigkeiten einschreiten, um sich gegen unfaires und ausgrenzendes Handeln wehren zu können».(5)
Der Anti-Bias-Ansatz, also eine vorurteilsbewusste Haltung, nimmt Diskriminierung, Benachteiligung und Machtverhältnisse in den Blick. Essenziell sind hierbei Prozesse der Selbst- und der Praxisreflexion, in welchen Vorstellungen von sich selbst und von anderen sowie eigene Vorurteile und diskriminierende Verhältnisse aufgedeckt werden. Dadurch können Veränderungen für eine qualitativ bessere pädagogische Arbeit im schulischen Alltag angestossen werden.(6) Vertiefte Informationen zu Prozessen der Selbst- und Praxisreflexion findet sich im Hintergrundtext ‹Diversität im Unterricht›.
Hier hören Sie von zwei Lehrpersonen, was ihnen bei der Bücherauswahl wichtig ist:
Diversitätssensible Bücher sollen die Wertschätzung für Vielfalt fördern und Vorurteilen sowie Stereotypen entgegenwirken. Sie sollen möglichst viele Diversitätsaspekte als selbstverständlichen Teil in den Geschichten darstellen.(7) Grundsätzlich gilt es auch den Kindern im Schulzimmer und in der Bibliothek eine möglichst diverse Kinderbuchauswahl zur Verfügung zu stellen. Dabei ist zu beachten, dass nicht jedes Buch alle Kriterien zugleich erfüllt. Meist nimmt ein Buch einzelne Diversitätsaspekte auf und setzt somit einen Schwerpunkt. Erfüllt ein Buch nicht alle Kriterien eines diversitätssensiblen Kinderbuchs, können Lehrpersonen Teile selektiv vorlesen und Stellen überspringen oder entsprechende Textstellen beim Erzählen adaptieren. Es ist auch eine Möglichkeit in der Schule gewisse Bilder abzudecken oder nicht zu zeigen. Eine weitere Möglichkeit ist es, über problematische Textausschnitte und Bilder mit den Kindern zu sprechen.
Die Fachstelle Kinderwelten hat folgende Kriterien für die Auswahl von Kinderbüchern formuliert, «die zu einer vorurteilsbewussten und inklusiven Bildung und Erziehung beitragen können».(8):
Kinder mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Familienstrukturen sollen sich identifizieren können.
Alle Kinder sollen angeregt werden, ihren Horizont zu erweitern und etwas über die Vielfalt von Lebensgewohnheiten erfahren.
Die Bücher sollen Kindern helfen, ihren ‹Gefühlswortschatz› zu erweitern.
Die Bücher sollen keine stereotypen und diskriminierenden Abbildungen oder Inhalte enthalten.
Die Bücher sollen anregen, kritisch über Vorurteile und Diskriminierung nachzudenken.
Die Bücher sollen Beispiele enthalten, die Mut machen, sich gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit zu wehren.
«Mama, dürfen wir raus?» mit dieser Frage beginnt an einem gewöhnlichen Nachmittag das Abenteuer von Kalle und Elsa. Die beiden packen ihre Rucksäcke und stibitzen beim Herausschleichen aus der Küche noch etwas Proviant. In Kalle und Elsas Fantasie verwandelt sich der Garten rund um das Haus in einen verwachsenen Dschungel mit vielen Tieren und Gefahren. Im Dschungel begegnen sie einem grossen Wolf, der sich in ein gefährliches Krokodil verwandelt.(9) Trotz der Gefahr schaffen es die beiden, an dem Krokodil vorbeizuschleichen und das Abenteuer geht weiter.(10)
Weshalb ist das Buch diversitätssensibel?
Das Buch nimmt die Themen Freundschaft, Fantasie, Angst & Mut auf und zeigt zwei starke Kinder, die eigenständig und fantasievoll «ihre Zeit und den Raum zum Spielen gestalten».(11) Kalle ist ein Kind of Colour, was in Kinderbüchern nach wie vor eine Seltenheit ist. Zudem zeigen die beiden nicht geschlechterrollenkonformes Verhalten. Elsa kann gut klettern und besonders gut Hütten bauen, Kalle kümmert sich darum, die Hütte gemütlich einzurichten und bereitet das Essen zu. Die beiden agieren gleichberechtigt, lassen sich auf das Abenteuer ein und «zeigen sich mal mutig und mal ängstlich und achten aufeinander».(12) Das Bilderbuch eignet sich für Kinder im Zyklus 1.
Westin Verona, J. & Verona, J. (2018). Kalle und Elsa. Bohem Verlag.
Themen: Adultismus und Starke Kinder, Freundinnen und Freunde, BIPoC [1], Gender, Gefühle (13)
Weitere Bücher der Reihe:
Westin Verona, J. & Verona, J. (2018). Kalle und Elsa. Ein Sommerabenteuer. Bohem Verlag.
Westin Verona, J. & Verona, J. (2020). Kalle und Elsa lieben die Nacht. Bohem Verlag.
[1] «Schwarze und People of Color: Hierbei handelt es sich nicht um biologische Kategorien, sondern um politische Selbstbezeichnungen von Menschen, die in Bezug auf die weisse Mehrheitsgesellschaft in der westlichen Welt aufgrund ethnischer Zuschreibungen als nicht-weiss definiert werden und Zielscheibe von Diskriminierung sind. I steht für indigene Identitätsgruppen und bezeichnet die Nachfahren von Menschen, die auf dem Gebiet gewohnt haben, ehe dies kolonialisiert wurde. Abgekürzt BIPoC, dabei steht Black (Engl.) für Schwarz» (ista, 2021, S. 1).
«There will be times when you walk into a room and no one there is quite like you». Mit diesem Satz beginnt die Geschichte, in der erzählt wird, «wie es sich anfühlt, an einem Ort zu sein, wo man sich anders fühlt als die anderen. Die Kinder im Buch machen das für sich selbst an unterschiedlichen Aspekten fest: am Hautton, der Kleidung, den Haaren, der Sprache, der Herkunft, am Lieblingsessen, daran, was sie in den Sommerferien gemacht haben oder dass sie die Spiele der anderen Kinder nicht spielen wollen bzw. nicht mitspielen dürfen. Die Geschichte handelt aber auch von dem Mut, den man braucht, um an neue Orte zu gehen und dort die Person zu sein, die man ist».(14) Angelina, die neu in die Klasse gekommen ist, macht am Ende der Geschichte die Erfahrung, dass eine Verbindung und Freundschaften zu anderen Kindern entstehen können, wenn sie sich traut zu sich zu stehen und von sich selbst zu erzählen. Das Buch endet mit dem Satz: «where every new friend has something a little like you – and something else so fabulously not quite like you at all».(15)
Weshalb ist das Buch diversitätssensibel?
Die Geschichte übermittelt die Botschaft, dass jeder und jede sich manchmal wie eine Aussenseiterin oder ein Aussenseiter fühlt, aber genau an dieser gemeinsamen Erfahrung kann man anknüpfen. «Auf diese Weise werden Kinder dazu ermutigt, Platz einzunehmen, um das Gefühl des «anders sein» zu überwinden. Die Kinder im Buch haben unterschiedliche Hauttöne, kein Hautton wird in der Mehrheit dargestellt».(16) Bei den drei Hauptcharakteren handelt es sich um drei Kinder of Color. Ausserdem werden in der Geschichte verschiedene Familienstrukturen präsentiert. Zum Beispiel wenn es um das Essen geht oder was die Kinder in ihren Ferien gemacht haben.(17) Das Bilderbuch eignet sich für Kinder im Zyklus 1 & 2.
Woodson, J. & López, R. (2018). The day you begin. Paulsen Books.
Deutsch: «Der Tag, an dem du etwas anfängst». Die deutsche Version erscheint im April 2023.
Themen: BIPoC, Freund*innen, Gefühle, Kindergarten und Schule (18)
In diesem Buch werden 100 aussergewöhnliche Frauen portraitiert, die es wirklich gab und gibt und die alle Menschen kennen sollten. Das sind Forscherinnen, Entdeckerinnen, Aktivistinnen, Politikerinnen, Astronominnen, Rennfahrerinnen, die Liste erfolgreicher Frauen ist lang.
Weshalb ist das Buch diversitätssensibel?
Die Idee zum Buch wuchs aus der Entdeckung heraus, dass die Autorinnen in den Bücherregalen kaum Bücher mit Frauen als starke Heldinnen in den Hauptrollen gefunden haben. Weibliche Vorbilder sollten also in die Kinderzimmer einziehen. Im Buch werden die Geschichten von starken Frauen portraitiert, «Frauen und Pionierinnen werden wieder ins Rampenlicht gerückt und» sollen Mädchen und Frauen bei der Umsetzung ihrer Ziele und Träume zu ermutigen.(19) Die Kurzportraits von starken Frauen wie der Malerin Frida Kahlo, Piratenanführerin Jacquotte und der Dichterin Virginia Woolf werden begleitet von Illustrationen von 60 Künstlerinnen aus aller Welt und einem prägnanten Zitat der jeweiligen Protagonistin.(20) Das Buch eignet sich für Kinder im Zyklus 1 & 2.
Favilli, E. & Cavallo, F. (2017). Good night stories for rebel girls. München: Carl Hanser.
Themen: Adultismus und Starke Kinder, Gender, Behinderung, BIPoC, LGBTIQ*[2]Vielfältiges Wissen (21)
Weitere Bücher der Reihe:
Favilli, E. & Cavallo, F. (2018). Good night stories for rebel girls 2. Mehr aussergewöhnliche Frauen. München: Carl Hanser.
Favilli E. (2020). 100 Migrantinnen, die die Welt verändern. München: Carl Hanser.
[2] «Abkürzung aus den englischen Begriffen Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual, Queer. Je nach Kontext werden die Abkürzungen LGBTI oder LGBT verwendet. Die Kürzel bezeichnen Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass sie nicht in die Norm der Heterosexualität und des eindeutigen Zweigeschlechtersystems passen (wollen)» (Stadt Zürich, Begriffserklärungen).
In diesem Beitrag zur diversitätssensiblen Kinderliteratur haben Sie einen Einblick in die Thematik erhalten und Leitfragen kennen gelernt, die Sie bei der Auswahl geeigneter Bücher für den Unterricht unterstützen. Mit der Auswahl diversitätssensible Kinderliteratur für Ihren Unterricht bieten Sie Kindern die Möglichkeit, eine breite Palette unterschiedlichen Charakteren, Familienkonstellationen und Lebensgewohnheiten durch Bücher zu erfahren. So können sich viele Kinder in den Geschichten wiederfinden und andere haben die Möglichkeit, ihre Perspektiven zu erweitern.
1) Geoffroy, M., Kübler, A., Lindemann, U., Mamutovic, Ž., Zieher, M., o.J., S. 2
2) Turecek, M., 2015, S. 21
3) Bröhl, D., 2014, S. 5
4) Geoffroy et al., S. 3
5) ebd.
6) Bröhl, D., 2014, S. 6
7) vgl. Geoffroy et al., o. J., S. 3 f.
8) ebd., S. 1
9) vgl. ista, 2021, S. 79
10) vgl. buuu.ch
(11) ista, 2021, S. 27
(12) ebd.
(13) ebd., S. 27
(14) ebd., 56
(15) ebd.
(16) ebd.
(17) ebd.
(18)vgl. ebd.
(19) ebd., S. 46
(20) vgl. ebd.
(21) vgl. ebd.
Mätschke, J. (2017). Rassismus in Kinderbüchern: Lerne, welchen Wert deine soziale Positionierung hat! In Fereidooni, Karim und El, Meral (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 249-268). Wiesbaden: Springer VS.
Webseite Baobab Books zum Thema Diversität in Kinderbüchern
Bücherlisten für 3- bis 9-jährige Kinder vom Institut für den Situationsansatz
Bücherliste intersektionale Kinderbücher
Instagram-Kanal von Rahel El-Maawi: @vor.bilder.buecher
Bröhl, D. (2014). Vorwort zur Broschüre. In Sprache-Macht-Rassismus. Dokumentation der Fachtagung vom 22. Oktober 2014. Diakonie: Düsseldorf. [Pdf-Datei]. Gefunden unter http://bilderimkopf.eu.
buuu.ch. (o. J.). Diverse Kinderbücher. Absolut klischeefrei und wunderschön: Kalle und Elsa. [Webartikel]. Gefunden unter https://buuu.ch/bilderbuecher/kalle-und-elsa/.
El-Maawi, R., Owzar, M. & Bur, T. (2022). No to racism. Bern: HEP-Verlag.
Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Institut für den Situationsansatz (ista). (o. J.). Checkliste zur vorurteilsbewussten Einschätzung von Kinderbüchern. [Pdf-Datei]. Gefunden unter https://situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten/.
Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Institut für den Situationsansatz (ista). (2021). Kinderwelten. Bücherliste in denen Schwarze, Indigene und People of Color eine Hauptrolle haben [Pdf-Datei]. Gefunden unter https://situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten/
Geoffroy, M., Kübler, A., Lindemann, U., Mamutovic, Ž., Zieher, M. (o.J.). Liebe Eltern und Erzieher*innen, liebe Leser*innen und Vorleser*innen von Kinderbüchern. Vorwort zur Bücherauswahl. Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Institut für Situationsansatz/Internationale Akademie Berlin gGmbH (INA) [Pdf-Datei]. Gefunden unter https://situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten/.
Stadt Zürich. (o. J.) Präsidialdepartement. Begriffsklärungen. [Webartikel]. https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/gleichstellung/themen/sexuelle_orientierung_geschlechtsidentitaet/Begriffsklaerungen.html#lgbtiq.
Turecek, M. (2015). Die «Anderen» im Klassenzimmer: Othering im Kontext von DaZ in der Lehrer/innenbildung. In Scenario. Sprache, Kultur, Literatur. (1), 19-44.
Milena Bieri
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, IZB
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