Während mehrerer Monate ist eine Vertreterin einer nicht-deutschen Erstsprache «zu Besuch». Ihre regelmässige Mitarbeit macht sprachliche Diversität selbstverständlicher. Sie gibt Impulse für mehrsprachiges Lernen innerhalb der allgemeinen Sprachförderung, ganz nach dem Motto «Viele Sprachen – eine Sprachförderung». Parallel zu den Sprachbesuchen bilden sich die Lehrpersonen hinsichtlich der Sprachförderung weiter.
Die Idee der Sprachenbesuche stammt aus dem Projekt «Miteinander mehrsprachig» der PH FHNW, das an drei Schulstandorten durchgeführt wurde.

Text: Dominique Braun und Simone Kannengieser
Empfohlen für Zyklus 1 und 2

Beschreibung der Idee

Sprachen zu Besuch

Frau Farinha sitzt auf dem Teppich und beobachtet zunächst einige Minuten zurückhaltend die Kinder um sie herum. Es dauert nicht lange, bis Dilan, der selbst Kurdisch und Deutsch spricht, mit einem Würfelspiel zu ihr kommt und darum bittet, das Spiel mit ihm zu spielen. Die beiden beginnen mit der Vorbereitung des Spiels. Sie sprechen deutsch miteinander. Als die beiden dann spielen, lässt Frau Farinha ihre Erstsprache Portugiesisch einfliessen. Immer, wenn sie an der Reihe ist mit Würfeln, zählt sie für sich auf Portugiesisch ab, wiederholt dabei immer wieder die Zahl nochmals auf Deutsch. Dilan folgt den Regeln noch nicht so genau und sein Abzählen geschieht noch eher schemenhaft. Aber das Abwechseln und das Aufdecken einer Feldkarte sind schon feste Elemente seines Spiels. Er wartet aufmerksam ab, bis Frau Farinha jeweils – auf Portugiesisch – gezählt und ihre Karte aufgedeckt und – auf Deutsch – benannt hat.

Später in der Küchenecke verwendet Frau Farinha eine ganze Weile sehr viel Portugiesisch, denn das Kind, das hier mit den Flaschen, Schüsseln, Kannen und Tellern hantiert, ist deutsch- und portugiesischsprachig. Frau Farinha bestellt Kaffee, tut so, als ob sie Zucker hineinrühren würde, rühmt den Geschmack und Geruch des Kaffees … Das Kind spricht kaum, ist aber vertieft in die Abläufe des «Service»-Spiels und sehr ernst bei der Sache.
 

«Der Gruppenanschluss wurde gefördert. Spielte die ‘Sprachenfrau’ mit einem Kind, gesellten sich andere hinzu und fragten, ob sie mitmachen dürften.»

Lehrperson A, am Projekt beteiligt

 
«Die mehrsprachigen Personen wurden von den Kindern als weitere Lehrperson und von Lehrpersonen und Eltern auch als ‘Brückenbauerinnen’ wahrgenommen.»

Lehrperson B, am Projekt beteiligt

 

Bei ihren weiteren Besuchen leitet die Sprachvertreterin z.B. eine kreative Aktivität, eine musikalische Bewegungseinheit oder den Gesprächskreis. Und sie partizipiert auch bei Lernarrangements und Sequenzen, die die Lehrperson plant und gestaltet. Zudem nimmt sie an Ausflügen, Mahlzeiten und Pausen der Klasse teil. Sie kann auch bei Gesprächen mit Eltern dabei sein. Mit ihren Sprach- und Kulturkenntnissen bildet sie eine Brücke zu den Eltern. Ihre Anwesenheit über einen längeren Zeitraum bedeutet, dass neben Deutsch eine weitere Sprache in der Klasse selbstverständlich präsent ist. Für ein oder mehrere Kinder handelt es sich um die eigene Erstsprache. Dass dies bei vielen Kindern – ein- oder mehrsprachig – gut ankommt, zeigen die Erfahrungen aus dem Projekt:

 

«Die neue Person, das Nebeneinander von Sprachen nahmen die Kinder selbstverständlich auf. Sie waren oft begeistert, umarmten die Sprachenperson zur Begrüssung, imitierten Wörter, kommunizierten im Rollenspiel mit Sprachenwechseln und fragten nach anderssprachigen Bezeichnungen.» (Lehrperson C, am Projekt beteiligt).

 

«Einsprachige Kinder zeigten im Projekt hohe Aufmerksamkeit und Interesse für eine weitere Sprache, lernten schnell Wörter und Wendungen. Sie begannen aktiv metasprachlich zu kommentieren.» (Lehrperson D, am Projekt beteiligt).

 

Weitere Sprachen einzubeziehen bedeutet, dass die Schule diese Sprachen konkret fördert und dass sie diesen Sprachen Anerkennung verleiht. Dadurch ermutigt und bestätigt sie Kinder und Eltern in ihrer alltäglichen Mehrsprachigkeit.

 

«Der Gewinn von ‘Sprachen zu Besuch’ liegt auch in der Begegnung mit Gesichtern und Persönlichkeiten in Verbindung mit Mehrsprachigkeit.» (Lehrperson E, am Projekt beteiligt).

Weiterbildung

Ein wichtiger Aspekt des Projekts «Miteinander mehrsprachig» war die gemeinsame Weiterbildung von Klassen- und Fachlehrpersonen. Auch die Sprachenvertreterinnen und -vertreter konnten an diesen Weiterbildungen teilnehmen. Thema der Weiterbildung war eine sprachverstehensbasierte und alltagsintegrierte Sprachförderung unter Einbezug der Mehrsprachigkeit.

 

Sprachverstehen bedeutet, im Gesprochenen nach Bedeutung zu suchen und die ausgedrückten Inhalte zu erfassen. Das Sprachverstehen bildet die Basis für die sprachliche Entwicklung und das Sprachenlernen. In einer sprachverstehensbasierten Förderung achtet die Lehrperson darauf, dass sie die Kinder beim Entschlüsseln von Sprache unterstützt. Damit geht es um die allgemeine Förderung von Sprache und ihrer Funktion. Das Suchen nach Bedeutung und die Unterstützung des Sprachverstehens kommt allen Sprachen zugute. 

 

Alltagsintegrierte Sprachförderung meint, Sprache im Alltag anhand vieler Sprach- und Sprechsituationen gezielt zu fördern. Im Sinne einer Mehrsprachigkeitsdidaktik fördern Lehrpersonen dabei nicht ausschliesslich Deutsch, sondern lassen alle Sprachen in allen Situationen zu und beziehen nach Möglichkeit die Erstsprachen der Kinder und weitere Sprachen aktiv mit ein.

 

Die folgende Abbildung zeigt, wie bei einer sprachverstehensbasierten und alltagsintegrierten Sprachförderung die Bereiche «Sprache entdecken & entwickeln» und «Sprachen erwerben» kombiniert gedacht werden.

Bereiche «Sprache entdecken & entwickeln» und «Sprache erwerben» kombiniert. 
Eigene Darstellung Simone Kannengieser.
Bereiche «Sprache entdecken & entwickeln» und «Sprache erwerben» kombiniert.
Eigene Darstellung Simone Kannengieser.

An den gemeinsamen Weiterbildungen diskutierten die Teilnehmenden folgende Fragen:
 

  • Wie funktioniert alltagsintegrierte Sprachförderung?

  • Warum ist Sprachverstehen so zentral und warum ist es translingual (einzelsprachen-übergreifend) zu denken?

  • Welche Angebote, sprachlich zu handeln, bekommen die Kinder im Alltag? Wie handle ich als Lehrperson sprachlich? Welche Beispiele für die Förderung des sprachlichen Handelns können wir gemeinsam entwickeln?

  • Wie können die Kinder beim Sprachenverstehen und damit bei der Suche nach Bedeutungen im Gesprochenen unterstützt werden? Welche Formen (z.B. Bilder, Gesten, Rollenspiele, Gespräche) helfen den Kindern, sprachliche Äusserungen und Texte zu «durchdringen»? 

 

Längerfristig könnte eine solche Auseinandersetzung auch dazu beitragen, den DaZ- und HSK-Unterricht stärker integrativ zu entwickeln.

Eine Schulleitung organisierte zusätzlich monatliche Weiterbildungen und Begleitungen für die Teams zu den Themen Sprachentwicklung, explizite und implizite Sprachförderung, Sprachverstehen, Handlung, Spiel und Sprache im Kindergarten.

In den Schulen fanden zusätzlich Kooperationen zwischen Lehr- und Fachpersonen mit gegenseitigen Unterrichtsbesuchen, Beobachtungen und Reflexionen zu sprachlichen Interaktionen mit den Kindern statt. Dies war ein möglicher Anfang für Teamteaching und stufenübergreifenden Austausch.

Schliesslich besuchten Schulteams die Bibliomedia in Solothurn, wo sie Informationen zum mehrsprachigen Medienangebot und zu den Nutzungsmöglichkeiten für Literacy-Aktivitäten im Kindergarten erhielten.

So kann es gelingen

Nachhaltigkeit und Offenheit

Wollen Schulen die Förderung der Mehrsprachigkeit nachhaltig in die alltagsintegrierte Sprachförderung einbeziehen, eignen sich längerdauernde Projekte wie die Sprachbesuche sehr gut.

 

Von Seiten Schulleitung und Lehrpersonen ist eine offene Haltung allen Sprachen gegenüber zentral. Dazu gehört auch, dass Kinder nicht auf ihre Erstsprache fixiert und zu entsprechenden Sprachexpertinnen oder -experten gemacht werden. Viele Kinder freuen sich, wenn ihre Erstsprache einbezogen wird.

 

«Eindrücklich, wie es Kinder unterstützen kann, wenn ihre Erstsprache im Kindergarten vorkommt. Es gab einige Beispiele dafür, wie Kinder offener und sicherer wurden und sich deutlich wohler zu fühlen schienen.»

Lehrperson F, die am Projekt beteiligt war

 

Es gibt aber auch Kinder, die einfach nur dazugehören und sich in nichts von anderen Kindern unterscheiden wollen. Um alle Bedürfnisse zu respektieren, überlassen Lehrpersonen die Entscheidung den Kindern, ob sie sich in ihrer Erstsprache beteiligen wollen oder nicht. Dies gelingt, wenn sie Angebote zur Verfügung stellen, bei denen Kinder von sich aus ihre Spracherfahrungen einbringen können.

 

Zu einer offenen Haltung gehört auch, Sprachen grenzüberschreitend zu denken.

 

«Sprachengrenzen sind nicht starr. Beispielsweise partizipierten Kinder aus Mazedonien gerne und aktiv bei türkischsprachigen Aktivitäten. Spanisch und Portugiesisch sprechende Projektteilnehmerinnen verwendeten während der Austauschtreffen ihre Erstsprachen untereinander.»

Lehrperson G, die am Projekt beteiligt war

Weiterbildung

In gemeinsamen Weiterbildungen können Schulleitungen und Lehrpersonen das gemeinsame Fachwissen ausbauen und gemeinsame Haltungen entwickeln. Welche Haltung eine Lehrperson oder ein ganzes Team mehrsprachigen Kindern und Eltern gegenüber einnimmt, ist zentral. Es lohnt sich beispielsweise, zu überlegen, inwiefern Mehrsprachigkeit im Team als Defizit oder Ressource gilt oder welche Sprachressourcen welches Prestige erfahren (vgl. Hintergrundinformationen Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt)

Anforderungen an Sprachenvertreterinnen und -vertreter

Die Erfahrungen aus dem Projekt zeigen, dass Sprachenvertreterinnen und -vertreter mit Vorteil über Kenntnisse zur Sprachförderung inkl. eines Bewusstseins zu Bildungssprache (vgl. Hintergrundinformationen zu Bildungssprache) und Erfahrung in der Arbeit mit Kindern auf der Zielstufe mitbringen. Auch mündliche Kenntnisse in Deutsch zwecks Verständigung mit den Lehrpersonen sind wichtig.  

Im Projekt «Miteinander mehrsprachig» waren v.a. HSK-Lehrpersonen oder interessierte, sprachbewusste Migrantinnen und Migranten mit pädagogischer oder psychologischer Aus- oder Weiterbildung beteiligt.

Zusammenarbeit

Mit den Sprachenvertreterinnen und -vertretern kommt eine Person ins Klassenzimmer, die z.T. über andere Erfahrungen und Ressourcen verfügt als die Klassenlehrperson. Damit die Zusammenarbeit gelingt, begegnen sich die Beteiligten auf Augenhöhe. Das heisst, gemeinsam planen, gemeinsam auswerten, gemeinsam reflektieren – und dadurch voneinander lernen.

Im Projekt «Miteinander mehrsprachig» haben sich vom Projektteam geleitete Treffen bewährt. Die Beteiligten konnten Rollen klären, Zusammenarbeitsformen bestimmen und die gemeinsamen Vormittage vorbereiten.

Unterrichtsorganisation

Für eine integrierte Sprachförderung braucht es möglichst viele Sprach- und Sprechanlässe. Raum für das Sprechen im Spiel und über alltägliche Abläufe schaffen Lehrpersonen eher, wenn sie ihren Unterricht nicht überstrukturieren.

Finanzierung

Die Sprachenvertreterinnen und -vertreter müssen für ihre Mitarbeit adäquat entlöhnt werden. In der beschriebenen Idee war dies über die Projektfinanzierung möglich. Schulen, die die Idee ohne eine entsprechende Finanzierung aufnehmen möchten, können möglicherweise Gelder für eine Projektwoche dafür einsetzen. Anders als in einer Projektwoche würde die thematische Auseinandersetzung nicht innerhalb einer Woche, sondern punktuell über mehrere Monate stattfinden. Falls Schulen mit HSK-Lehrpersonen zusammenarbeiten, gibt es evtl. die Möglichkeit, dass sie auf einen vorhandenen Stundenpool zurückgreifen können. Hilfreich ist, wenn eine Schulleitung offen und flexibel mit Zeit- und Personalressourcen umgeht.

 

Ideal wäre, wenn kantonale Bildungsdirektionen die Organisation von Ideen wie «Sprachen zu Besuch» übernehmen würden. Dazu gehörte auch ein Pool an bezahlten mehrsprachigen Personen, die von Schulen und Lehrpersonen engagiert werden könnten.

Materialien und Links

Unterrichtsmaterialien und weiterführende Literatur zum Thema:

 

Informationen zu Bibliomedia Schweiz:

 

Literatur zur integrierten Sprachförderung:

Bildungsdirektion Kanton Zürich, Volkschulamt (Hrsg.) (2017): Fachkonzept Integrierte Sprachförderung auf der Kindergarten- und Primarstufe. Zürich: Bildungsdirektion.

 

Kann bestellt werden unter:
www.zh.ch/de/bildung

 

Integrierte Sprachförderung auf allen Schulstufen:

Kontakt

Projektteam: Anna Walser, Christine Schuppli, Simone Kannengieser

Prof. Dr. Simone Kannengieser
Leiterin der Professur für Berufspraktische Studien und Professionalisierung ISP
PH FHNW
Mail schicken
 

Finanzierung des Projekts durch PH FHNW, Bundesamt für Kultur

Dominique Braun
Dozentin, PH Zug
Mail schicken

Sprachen sichtbar machen

Eine Schulkultur, die alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler anerkennt und wertschätzt, macht diese Sprachen sichtbar:

Mehrsprachigkeit als Normalität

Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit bezieht alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit ein. Sie ermöglicht ihnen Sprachbegegnungen und lässt sie über Sprache nachdenken:

Erstsprachen fördern

Nicht-deutsche erstsprachliche Kompetenzen und jeweilige bildungssprachliche Fähigkeiten können auch in der Regelklasse gefördert werden, idealerweise in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen des Unterrichts in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK):

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