Besonders an der vorliegenden Idee ist, dass eine Lehrperson für Heimatliche Sprache und Kultur (HSK) im Regelunterricht mitarbeitet. Die Kinder erleben so Mehrsprachigkeit unmittelbar. Zugleich wird die betreffende Erstsprache gefördert. Die Wetterbericht-Idee stammt aus dem Projekt Noch mehr Sprache für alle der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern). Das zugehörige IdeenSet bietet Beschreibungen und Materialien für viele weitere Unterrichtsideen zur Mehrsprachigkeit.
Text: Dominique Braun
Empfohlen für Zyklus 1
Thema Bauernhof im Kindergarten: Für ein Zuhörspiel im Kreis lassen die Kinder in der Kreismitte Holzkühe auf der Weide grasen. Zu jeder Kuh gehört eine andere Glocke, deren Klang die Kinder mit geschlossenen Augen zu erkennen versuchen. Plötzlich sieht der Bauer, dass sich am Himmel die Wolken verdunkeln. Er möchte am Radio den Wetterbericht hören. Leider wird am echten Radio kein Wetterbericht gesendet.
Die Lehrerin Franziska Hügli springt mit dem selbstgebastelten Kartonradio ein und sendet einen Wetterbericht in Deutsch: «Ein Sturm ist im Anzug, ein Orkan. Menschen sollen zum Schutz ihre Häuser und Tiere ihren Stall aufsuchen.»
In der folgenden Zeit hören die Kinder immer wieder Wetterberichte der Klassenlehrerin. Die HSK-Lehrerin Saime Isufi sendet Wetterberichte in Albanisch. Die Heilpädagogin ergänzt mit Berichten in Französisch und der Praktikant in Englisch. Den Lehrpersonen geht es im ersten Schritt hauptsächlich ums Zuhören, um die Sprachmelodien. Das Kartonradio verdeckt nämlich Mimik und Gestik. Wenn ein Kind den Ein- und Ausschaltknopf drehen darf, ist das immer ein magischer Moment.
Die Kinder lauschen fasziniert, insbesondere als die HSK-Lehrerin in ihrer Sprache einen Wetterbericht sendet. Die Albanisch sprechenden Kinder reagieren unterschiedlich, ein Mädchen lächelt, ein Junge wird ernst. «Wir wollten die Freude an allen Sprachen wecken und mehrsprachigen Kindern mehr Selbstvertrauen geben. Saime war durch ihre eigene Mehrsprachigkeit das Tor dazu.» (Franziska Hügli, Lehrerin Kindergarten).
Indem die HSK-Lehrerin in verschiedenen Situationen Albanisch spricht, bringt sie wie selbstverständlich eine weitere Sprache in den Kindergartenalltag ein. «Bei jedem Besuch im Kindergarten habe ich die Kinder in Albanisch begrüsst. Wir haben ein albanisches Lied gesungen und beim Versteckspiel habe ich in Albanisch gezählt» (Saime Isufi, HSK-Lehrerin Albanisch). Dadurch erfährt diese spezifische Erstsprache Anerkennung. Der Sprachgebrauch der HSK-Lehrerin macht Mehrsprachigkeit zudem zu einem normalen Aspekt im Alltag. Im vorliegenden Beispiel ermöglicht die HSK-Lehrerin, auch Sprachen als wertvoll zu betrachten, die in unserer Gesellschaft möglicherweise weniger Prestige erfahren. Mehrsprachige Kinder getrauen sich dadurch vielleicht eher, auf ihre Erstsprache hinzuweisen und diese als persönliche Stärke wahrzunehmen. Dies ist für ihr Selbstvertrauen bedeutsam. «Durch die Anwesenheit von Saime wurden die unterschiedlichen Sprachen plötzlich wichtig und interessant.» (Franziska Hügli, Lehrerin Kindergarten). Die HSK-Lehrerin ebnet damit den Weg, dass neben ihrer eigenen auch alle anderen Erstsprachen mehr Anerkennung erhalten.
Durch die Mitarbeit der HSK-Lehrerin müssen Kinder, die die zusätzliche Sprache nicht verstehen, zudem genau hinhören – auch dies ein Aspekt der Zuhörförderung. «Etwas hören kann man immer, auch wenn man es nicht versteht.» (Franziska Hügli, Lehrerin Kindergarten).
Zurück in den Kindergarten: Die Kinder möchten eigene Wetterberichte senden, getrauen sich jedoch kaum, zu sprechen. Abgesehen von einem Mädchen, das in Französisch sendet und entsprechend bewundert wird. Gemeinsam entwickeln die Klassenlehrerin und die HSK-Lehrerin Wortschatzkarten. Diese unterstützen die Kinder im Sinne eines Scaffolding in ihren Formulierungen. Scaffolds sind sprachliche Hilfestellungen (Sprachgerüste). Meist handelt es sich um Redemittel (z.B. Satzanfänge), die die Lernenden ergänzen. Die Karten im vorliegenden Beispiel enthalten ein Bild sowie Begriffe und Redemittel in Deutsch und Albanisch. Wollen die Kinder nun einen Wetterbericht senden, legen sie mit Hilfe der Wortschatzkarten einen Ablauf. Am Anfang liegt immer das Radio. Das ist die Begrüssungskarte. Danach folgen die Karten für den eigentlichen Bericht (Wetter, Temperatur). Der Mund macht immer den Abschluss mit einem wetterspezifischen Hinweis, z.B. dass man bei diesem heissen Wetter am besten baden gehe.
Mit der Zeit werden die Kinder mutiger. Sie sprechen mehr und lauter. Das Beispiel zeigt, dass die HSK-Lehrerin den albanischsprechenden Kindern den Fachwortschatz und wichtige Redemittel eines Themas auch in ihrer Erstsprache anbieten kann. Damit fördert sie die Erstsprache integriert in den Kindergartenalltag.
Diese Förderung erfolgt auch bei einem Ausflug zum Bauernhof. Im selbstverständlichen Gespräch bietet die HSK-Lehrerin auch den Fachwortschatz in Albanisch an. «Die Albanisch sprechenden Kinder kannten nicht alle Namen der Bauernhoftiere in ihrer Erstsprache» (Saime Isufi, HSK-Lehrerin Albanisch).
Im vorliegenden Beispiel war einiges an Vorarbeit nötig, bevor die Kinder eigene Wetterberichte «senden» konnten. So mussten z.B. zuerst einmal alle Kinder wissen, was ein Radio ist. Zu beachten gilt hier auch, dass Kinder evtl. andere, modernere Vorstellungen eines Radios haben als Erwachsene. Die Klassenlehrerin hat mittels eines selbstgebastelten Kartonradios neben den Wetterberichten auch viele Bauernhofberichte gesendet, um die Kinder mit dem Medium vertraut zu machen.
Die Lehrpersonen vermittelten den Kindern den notwendigen Fachwortschatz und wichtige Redemittel, damit diese die Wetterberichte verstehen konnten. Es geht bei der Sprachförderung immer auch darum, bildungssprachliche Kompetenzen zu fördern. Deshalb sollten Lehrpersonen darauf achten, dass sie bewusst und in allen verwendeten Sprachen in der Bildungssprache sprechen.
Mit Höraufträgen förderten die Lehrpersonen das Zuhören und unterstützten die Kinder beim besseren Verstehen, z.B.:
«Wie oft habt ihr dasselbe Wort gehört?»
«Es ist von einem Tier die Rede. Findet ihr heraus von welchem?»
Für Berichte in anderen Sprachen als Deutsch, z.B. mit:
«Welches Wort / welchen Laut hört ihr immer wieder?»
«Welches Wort / welcher Laut erinnert euch an eine andere Sprache?»
Damit die Kinder schliesslich selbst Berichte formulieren konnten, boten ihnen die Lehrpersonen vorgegebene Redemittel – sogenannte Scaffolds – in zwei Sprachen an. Daran konnten sich die Kinder orientieren. Selbstverständlich können Lehrpersonen die Redemittel für den Wetterbericht noch in weiteren Sprachen anbieten. Dazu müssten sie in Zusammenarbeit mit weiteren HSK-Lehrpersonen, Eltern oder älteren Geschwistern die entsprechenden Wortschatzkarten zur Verfügung stellen. Sprachaufnahmen der Redemittel könnten die Kinder zusätzlich unterstützen.
«Wichtig ist, dass die Kinder Spass haben, und nicht, dass sie absolut korrekte Sätze formulieren. Sie sollen ermutigt werden, einen Bericht in ihrer Erst- oder Zweitsprache zu senden.» (Franziska Hügli, Lehrerin Kindergarten).
Lehrpersonen lassen die Kinder idealerweise frei entscheiden, in welcher Sprache sie einen Wetterbericht senden möchten. Damit vermeiden sie, dass Kinder in der Klasse auf eine bestimmte Sprache und Gruppe festgelegt werden, was diese möglicherweise als Ausgrenzung erleben würden (vgl. Hintergrundtext Diversität). Und sie ermöglichen auch einsprachigen Kindern, sich mit einer weiteren Sprache auseinanderzusetzen.
Die HSK-Lehrpersonen müssen für ihre Mitarbeit adäquat entlöhnt werden. Da der HSK-Unterricht meist mit Kindern aus verschiedenen Klassen, Schulhäusern oder gar Gemeinden stattfindet, können die regulären HSK-Lektionen selten in den Unterricht einer einzigen Klasse integriert werden. Vermutlich ist die gezielte Zusammenarbeit mit HSK-Lehrpersonen einfacher, wenn die Schule ein Projekt (z.B. Projektwoche) zur Mehrsprachigkeit durchführt. Für Projekte verfügen Schulen in der Regel über ein Budget. Möglicherweise können sie auch Stunden aus einem Pool verwenden. Damit könnten sie HSK-Lehrpersonen angemessen bezahlen. Ein Schulprojekt bietet zudem die Möglichkeit, mehrere HSK-Lehrpersonen mit unterschiedlichen Sprachen zu beteiligen.
Kurze Projektwochen haben den Nachteil, dass sie weder die Mehrsprachigkeit noch die Zusammenarbeit nachhaltig fördern. Denkbar wäre, das Budget für eine Projektwoche für ein länger dauerndes Projekt zu nutzen. So könnten die HSK-Lehrpersonen über einen längeren Zeitraum in den Klassen mitarbeiten.
Mit der HSK-Lehrperson kommt eine externe Lehrperson ins Klassenzimmer, die z.T. über andere Erfahrungen und Ressourcen verfügt als die Klassenlehrperson. Damit die Zusammenarbeit gelingt, müssen sich die Beteiligten auf Augenhöhe begegnen. Das heisst, gemeinsam planen, gemeinsam auswerten, gemeinsam reflektieren – und dadurch voneinander lernen.
Und selbstverständlich ist es einfacher, wenn die Chemie stimmt: «Unsere Zusammenarbeit hat gut geklappt, auch weil wir uns gut verstanden haben. So waren auch spontane Anpassungen während des Unterrichts gut möglich.» (Franziska Hügli, Lehrerin Kindergarten).
Die Klassenlehrerin gewann die Eltern für das Mehrsprachen-Projekt, indem sie sie einbezogen hat. Sie erstellte eine Liste, in der alle Eltern die Begriffe für Kuh und für Pferd in ihrer Erstsprache eintragen konnten (Thema Bauernhof). Dieses konkrete Vorgehen hat die Eltern überzeugt. Hingegen hatte ein früheres Informationsschreiben zu mehrsprachigem Unterricht bei einzelnen Eltern eher Skepsis hervorgerufen.
Das IdeenSet der PHBern bietet zur Wetterbericht-Idee Wortschatzkarten inkl. Begriffe, Redemittel und weitere Unterrichtsmaterialien
www.phbern.ch (bei «Unterrichtsmaterialien» weiterlesen).
Mittels QR-Code können sich Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler die Begriffe und Redemittel in Albanisch anhören. Auch Tonaufnahmen der Wetterberichte sind unter obigem Link zu hören. Die Unterrichtsmaterialien können kopiert und für die eigene Klasse adaptiert werden.
Projektbeschrieb
www.phbern.ch
Kurzfilm zum Projekt
www.paedagogischer-dialog.bkd.be.ch
Interview zum Projekt
www.youtube.com
Weiterführendes Projekt: Entwicklungsprojekt «Von A, wie Arabisch, bis Z, wie Zulu. Sprachenvielfalt in der postmigrantischen Schweiz»
www.phbern.ch
Für die Ermittlung schulsprachlicher Kompetenzen in der Erstsprache: www.erstsprachkompetenz.ch
Irène Zingg
Projektleiterin «Noch mehr Sprachen für alle», PHBern
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Dominique Braun
Dozentin, PH Zug
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Eine Schulkultur, die alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler anerkennt und wertschätzt, macht diese Sprachen sichtbar:
Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit bezieht alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit ein. Sie ermöglicht ihnen Sprachbegegnungen und lässt sie über Sprache nachdenken:
Nicht-deutsche erstsprachliche Kompetenzen und jeweilige bildungssprachliche Fähigkeiten können auch in der Regelklasse gefördert werden, idealerweise in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen des Unterrichts in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK):