In Klassengesprächen lernen Schülerinnen und Schüler ihr Wissen und ihre Meinungen logisch zu begründen und auf andere einzugehen. Damit sich alle an den Klassengesprächen beteiligen können, arbeitet ein Unterstufenteam mit festen Formulierungen. Diese ermöglichen Schülerinnen und Schülern zusätzlich, ihre bildungssprachlichen Kompetenzen aufzubauen.
Text: Dominique Braun
Empfohlen insbesondere für Zyklus 1
und 2
«Das Baby-Känguru ist sehr klein, wenn es auf die Welt kommt. Wie gross könnte es etwa sein? Formuliert eure Vermutungen in der Gruppe», lautet ein Auftrag an die 2. Klässlerinnen und 2. Klässler an der Schule Worbiger in Rümlang.
«Ich vermute, dass es etwa so gross ist wie meine Hand», meint Sophia[1]. «Ich finde auch, dass es etwa so gross ist wie meine Hand», bestätigt Romeo. Fama widerspricht: «Ich bin nicht einverstanden, weil das zu gross ist. Ich vermute, dass es etwa so gross ist wie mein Daumennagel.»
Die Kinder diskutieren in 4er-Gruppen. An der Wandtafel hängen die Formulierungen, die sie bei solchen Gesprächen immer wieder verwenden, wie beispielsweise auch bei Experimenten zu Magnetismus oder im Sportunterricht. Dort schätzen sie zum Beispiel die eigene Fähigkeit im Weitsprung ein: «Ich vermute, dass ich 2,5m weit springe.»
Diese Formulierungen haben die Schülerinnen und Schüler bereits in der 1. Klasse kennengelernt und gefestigt:
[1] Die Namen der Kinder sind frei erfunden.
So haben sie etwa vermutet, welche Hobbys ihre Gspändli haben. Das Ratespiel diente damals einerseits dem gegenseitigen Kennenlernen in der neuen Klasse. Andererseits lernten die Kinder damit die Formulierung «Ich vermute, dass…» kennen. Weil alle eine Vermutung formuliert haben, konnten sie sich diese besser einprägen. Damit es mit den immer gleichen Formulierungen spannend bleibt, braucht es erfahrungsgemäss interessante Inhalte (vgl. Tschüss-Runde bei «Gesprächsregeln» weiter unten). Die vorgegebenen Formulierungen hätten sogar den Vorteil, dass sie mehr Gewicht auf den Inhalt legen könne. Die Kinder müssten nicht an den Formulierungen herumstudieren, sondern könnten sich stärker auf den Inhalt konzentrieren, ist Bernadette Kaiser überzeugt. Sie unterrichtet seit über 30 Jahren an der Unterstufe in Rümlang und ist QUIMS-Beauftragte[2] der Schule.
Im Lauf der 1. Klasse lernen die Schülerinnen und Schüler die übrigen Formulierungen kennen. In der 2. Klasse wenden sie die Formulierungen dann in wechselnden Situationen immer wieder an.
Ziel ist, dass die Schülerinnen und Schüler über bildungssprachliche Formulierungen verfügen. Damit können sie sich mitteilen und an einem Gruppen- oder Klassengespräch partizipieren. Beides sind wichtige Aspekte in Bezug auf Schulerfolg.
Die Formulierungen zum Klärungsbedarf sind besonders wichtig, z.B. wenn Lernende ein Spiel oder einen Auftrag nicht verstehen. Erst dann können sie überhaupt am Unterricht teilnehmen – ebenfalls eine der Bedingungen für Schulerfolg. Stellen Lehrpersonen diese Formulierungen explizit zur Verfügung, ist es zudem legitim, nachzufragen.
In der 3. Klasse kommen neue Formulierungen dazu. Ziel ist, dass alle Schülerinnen und Schüler Ende der 3. Klasse mindestens die oberste Formulierung aus jedem Feld anwenden können:
Bernadette Kaiser arbeitet auch im Fach Mathematik mit diesen Formulierungen. Dort seien sie besonders gut geeignet, weil sprachliches Argumentieren zentral sei. Sie fragt z.B.: «Wie würdest du diese Aufgabe lösen?» Oder sie lässt die Schülerinnen und Schüler beim Thema Zahlenmauern vermuten, welche Zahl sie in ein bestimmtes, leeres Feld einfügen könnten.
Die verlangten Formulierungen sind in der 3. Klasse komplexer und lassen die Kinder stärker aufeinander reagieren, z.B.:
Kind A: «Ich vermute, dass es die 10 ist.»
Kind B: «Ich bin nicht einverstanden, weil es eine ungerade Zahl sein muss.»
Kind C an Kind B gewandt: «Woher weisst du das?»
[2] QUIMS steht für Qualität in multikulturellen Schulen und ist ein Schulprogramm im Kanton Zürich, das Schulen mit einer ausgeprägt heterogenen Schülerschaft finanziell und fachlich unterstützt www.zh.ch/de/bildung. Die QUIMS-Beauftragten absolvieren einen CAS und sind an ihrer Schule gemeinsam mit der Schulleitung verantwortlich für die Umsetzung spezifischer Themen.
Das Unterstufen-Team der Schule Worbiger arbeitet seit zwei Jahren mit diesen Formulierungen. Die Lehrpersonen haben sie in einem Modul der SCALA-Weiterbildung entwickelt, in Anlehnung an den Ansatz des Accountable Talk.
Dieser Ansatz sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen Gespräch ihr Wissen aufbauen. Am Gespräch beteiligen sich möglichst alle. Auch ist wichtig, dass sie sich aufeinander beziehen, z.B. indem sie beieinander nachfragen. (1)
Beim Accountable Talk sind drei Aspekte («three accountabilities» (2)) besonders wichtig: Verantwortung für das Wissen, Verantwortung für die Argumentation und Verantwortung für die Gemeinschaft. Das bedeutet, dass ein Gespräch auf korrekt dargelegten Fakten basiert. Weiter sollen die Beiträge logisch begründet sein. Und schliesslich ist der gegenseitige Respekt zentral (3) (vgl. auch Gelingensbedingungen weiter unten).
Im Klassenzimmer Gespräche dieser Art zu führen, ist anspruchsvoll. Interessant sind Studienergebnisse, die zeigen, dass gerade Schülerinnen und Schüler aus Schulen mit eher schwachen und durchschnittlichen Gesamtleistungen von diesem Ansatz profitieren. Sie können an den Gesprächen teilnehmen und sie verbessern zudem ihre Leistungen. (4)
Beim Accountable Talk geht es auch um Haltungen, u.a. um Erwartungen der Lehrpersonen an die Schülerinnen und Schüler, um Erwartungen zwischen den Lernenden und um Erwartungen an sich selbst (vgl. (5) sowie zum Thema Erwartungen Hintergrundinformationen Schulerfolg).
Konkret bedeutet dies an der Schule Worbiger, dass die Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern zutrauen und damit von ihnen erwarten, dass sie sich sprachlich und inhaltlich an den Diskussionen beteiligen können. Es reicht dabei nicht, wenn Lehrpersonen einfach höhere Erwartungen haben. Vielmehr müssen sie gezielte Unterstützung bieten. Deshalb ist die Arbeit mit den vorgegebenen Formulierungen so zentral. Weiter ermöglichen die Formulierungen, dass Aussagen begründet werden und dass sich die Sprechenden aufeinander beziehen können. So, wie dies beim Accountable Talk vorgesehen ist.
Damit die Schülerinnen und Schüler die Formulierungen irgendwann selbständig anwenden, brauchen sie viel Übung. Formulierungen, die prominent im Schulzimmer angebracht sind, unterstützen dabei. Dies gilt insbesondere für Übungsphasen. Nicht bewährt hat sich, wenn die Formulierungen auf den Pulten kleben. Da werden sie leicht übersehen.
Auch bestehen die Lehrpersonen darauf, dass die Schülerinnen und Schüler die vorgegebenen Formulierungen exakt und korrekt verwenden. Bei Fehlern bietet es sich an, explizit zu korrigieren. Manchen Lehrpersonen ist das möglicherweise zu starr. Auch korrigieren sie lieber implizit. Die exakte und korrekte Formulierung einzufordern ist wichtig, weil die Schülerinnen und Schüler dadurch ihre bildungssprachlichen Kompetenzen erhöhen, ein zentraler Aspekt für den Schulerfolg (vgl. Idee «Sprachbewusster Unterricht – Rituale ® Gelingensbedingungen). Bernadette Kaiser und ihr Team haben den Kindern erklärt, dass es ihnen bei diesen Formulierungen besonders wichtig ist, dass alles stimmt.
Es stellt sich auch die Frage, ob sprachstärkere Schülerinnen und Schüler möglicherweise unterfordert sind, wenn sie sich an vorgegebene Formulierungen halten müssen. Bernadette Kaiser meint dazu, dass es auch darum gehe, einen gemeinsamen Formulierungsschatz zu haben, um sich gegenseitig zu verstehen. Damit der Unterricht interessant bleibe, brauche es inhaltlich spannende Fragen. Und es gäbe genügend Situationen im Unterricht, in denen sprachstärkere Kinder in ihrer komplexeren Sprache gefördert würden.
Die Erfahrung an der Schule Worbiger zeigt auch: Je mehr die Lehrpersonen die Formulierungen selbst anwenden, desto eher verwenden sie auch die Kinder. Mit der Zeit klappt das von sich aus. «Es ist ein schöner Moment, wenn ein Kind, das lange Zeit Mühe hatte, sich auszudrücken, plötzlich aufstreckt und sagt: ‘Kannst du bitte lauter sprechen?’» (Zitat Bernadette Kaiser, Schule Worbiger Rümlang).
Wie oben ausgeführt, gehört zum Ansatz des Accountable Talk gegenseitiger Respekt. Dies sind u.a. Gesprächsregeln, an die sich alle halten. An der Schule Worbiger setzen die Lehrpersonen diese Regeln klassenspezifisch um. Bei Bernadette Kaiser und ihrer Kollegin geben die Kinder z.B. einen Ball herum. Wer den Ball hält, spricht. Anhand von kleinen Theaterszenen üben sie, sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören. Sie probieren aus, wie es sich anfühlt, wenn andere wegschauen, während man selbst spricht. Oder wie es sich anfühlt, wenn andere miteinander schwatzen, während man etwas sagen will.
Meist gilt auch die Regel, dass alle mindestens einmal etwas sagen müssen. Das kann im Notfall auch sein: «Ich möchte nichts sagen.» Bei offeneren Diskussionen sei es etwas schwieriger, alle zu motivieren. Mit kleineren Gruppen gelingt es eher. Bewährt haben sich auch Bälle oder Stäbe, die sich die Kinder gegenseitig zuspielen bzw. weitergeben können.
Ob sich jemand beteiligt, ist oft auch eine Frage des Selbstvertrauens. Ein Kind braucht das Vertrauen, dass die eigene Botschaft wichtig ist. Und es muss sich getrauen, diese vor anderen zu äussern. Um dies zu üben, hat Bernadette Kaiser die «Tschüss-Frage» eingeführt. Diese kündigt sie bereits im Laufe des Nachmittags an. Am Ende des Tages fragt sie dann: «Was hast du heute Neues gelernt?» oder «Was hat dich heute besonders interessiert?» oder «Was erzählst du, wenn du nach Hause kommst?» Mit der letzten Frage schafft sie auch gleich eine Verbindung zum Elternhaus. In ihren Rückmeldungen zu den Äusserungen der Schülerinnen und Schüler verwendet die Lehrperson ausserdem möglichst die oben beschriebenen Formulierungen.
Die Kinder dürfen erst «Tschüss» sagen, wenn sie einen Beitrag geleistet haben. «Viele Kinder bleiben auch nach ihrer Antwort sitzen, weil sie wissen wollen, was die anderen sagen», erzählt Bernadette Kaiser. Auch hier gilt also: Es braucht interessante Fragen, die spannende Antworten nach sich ziehen. Und es mache die Kinder auch stolz, wenn sie realisierten, was sie gelernt hätten.
Zum gegenseitigen Respekt gehört auch, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, andere Ansichten zu akzeptieren. Für solche Diskussionen ist insbesondere der Klassenrat geeignet. Wenn die Schülerinnen und Schüler Ideen für neue Anschaffungen auf dem Pausenplatz sammeln und dabei diskutieren, ob es eher eine Schaukel oder Fussballtore braucht, könne es schon kontrovers werden. Allerdings sei es in solchen Diskussionen schwierig, dass sich alle beteiligen würden. Es gäbe Kinder, die keine Idee für einen Beitrag hätten. In solchen Diskussionen reicht die Unterstützung anhand von Formulierungen nicht aus. Vielmehr müssen die Lehrpersonen die Kinder inhaltlich an ein Thema heranführen.
Besonders geeignet, um die Formulierungen zu üben, sind Sprechanlässe, die unterschiedliche Beiträge ermöglichen. Wie bereits erwähnt, macht dies die Gespräche interessanter. An der Schule Worbiger haben sich folgende Anlässe bewährt:
Etwas Neues kennenlernen und im Kreis Vermutungen dazu anstellen
Vermutungen zu NMG-Themen formulieren
Diskussionen im Klassenrat und unterschiedliche Meinungen einbringen
Präsentationen der Schülerinnen und Schüler und Rückmeldungen dazu geben
Lehrpersonen, die an derselben Klasse unterrichten, sprechen sich idealerweise darüber ab, welche Formulierungen(en) wann im Zentrum stehen. Im DaZ-Unterricht kann die Lehrperson so nochmals intensiver an den Formulierungen arbeiten. Auch das schafft Selbstvertrauen und kann dazu führen, dass sich diese Kinder im Plenum eher melden.
Zudem braucht es Absprachen im (Stufen-)Team. Bis das Unterstufenteam der Schule Worbiger die aktuellen Formulierungen erarbeitet hatte, waren viele Gespräche notwendig. Im Rahmen der Weiterbildung hätten sie einiges ausprobiert, diskutiert und wieder angepasst. Arbeitet die ganze Schule mit vereinbarten Formulierungen, sind die Absprachen auch wichtig, damit die Schülerinnen und Schüler beim Stufenwechsel und einer neuen Zusammensetzung der Klasse über dieselben Formulierungen verfügen. Zudem können Lehrpersonen auf anschliessenden Stufen an den Formulierungen anknüpfen.
Wollen Schulen einen gemeinsamen Formulierungsschatz aufbauen, brauchen die Lehrpersonen genügend zeitliche Ressourcen. Es handelt sich um ein Thema der Unterrichtsentwicklung, das idealerweise in gemeinsamen Weiterbildungen angegangen wird.
Wie bei vielen pädagogischen Themen ist es zentral, dranzubleiben. An der Schule Worbiger wird das Thema regelmässig an den pädagogischen Konferenzen traktandiert. Die Lehrpersonen tauschen sich dann darüber aus, was sie gerade gemacht haben, was gelungen ist und was weniger. So lernen sie auch gegenseitig voneinander.
«Und mit der Zeit hat man es wie im Hinterkopf und merkt, ah da könnte ich auch noch eine Formulierung anwenden.» (Zitat Bernadette Kaiser, Schule Worbiger Rümlang).
(1) vgl. Resnick et al., 2018, S. 14f.
(2) Resnick et al., 2018, S. 14.
(3) vgl. Resnick et al., 2018.
(4) vgl. Resnick et al., 2018, S. 15 mit Bezug auf Resnick et al. 2015.
(5) Resnick et al., 2018, S. 14
Zum Herunterladen: Formulierungen aus der Schule Worbiger, Rümlang
® inkl. Youtube-Film mit Kurzzusammenfassung von LP (englisch)
Resnick, L. B., Asterhan, C. S. C. & Clarke, S. N. (2018). Accountable Talk: Instructional dialogue that builds the mind. In UNESCO International Bureau of Education (IBE) & International Academy of Education (IAE) (Hrsg.), Educational Practice series (Bd. 29). Brüssel und Genf.
Bernadette Kaiser, Primarlehrerin und QUIMS-Beauftragte,
Schule Worbiger Rümlang
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Dominique Braun
Dozentin, PH Zug
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