Der Klassenball, ein grosser, flauschiger, farbiger Ball stärkt die Klassengemeinschaft. Zudem unterstützt er Schülerinnen und Schüler darin, die Gesprächsregeln beim gemeinsamen Austausch in der Klasse einzuhalten.
Text: Milena Bieri und Marianne Aepli
Empfohlen für Zyklus 1 und 2
Die Kinder der Klasse 2a sitzen mit ihrer Lehrperson Marianne Aepli im Kreis. Gerade ist die Klasse dabei, einen Klassenball herzustellen. Dazu hat die Lehrerin einen längs gefalteten A4-Karton vorbereitet, an dem ein langes Stück Wolle befestigt ist.
Marianne Aepli setzt einen Erzählimpuls: «Erzähle von einem Erlebnis, das dir besonders gut gefallen hat.» Ein Kind beginnt, die Wolle um den Karton zu wickeln und erzählt dabei vom Spieleabend mit der Familie. Die anderen Kinder hören aufmerksam zu und beobachten, wie sich immer mehr Wolle um das Kartonstück wickelt. Wenn ein Faden zu Ende geht, sucht das Kind, das gerade wickelt, einen neuen Faden aus und knüpft ihn an das Ende des alten Fadens. Nachdem einige Kinder erzählt haben, gibt Frau Aepli einen neuen Erzählimpuls: «Erzähle von etwas, das du mit einem anderen Kind gemeinsam gemacht hast.» Die Erzählrunde geht weiter, bis alle Kinder wickeln und erzählen konnten.
Erzähle von einem Erlebnis, das dich besonders gefreut hat.
Erzähle von Dingen, die du besonders magst.
Erzähle von einer Begegnung, die dir besonders gut gefallen hat.
Erzähle etwas, das du mit einem anderen Kind gemeinsam gemacht hast.
Erzähle, was dich stolz macht.
Eine Erzählrunde dauert etwa eine halbe Stunde. Dann ist der Klassenball jedoch noch lange nicht fertig. Er bekommt einen Platz im Schulzimmer und die Kinder können in den Pausen oder auch während des Unterrichts zu zweit weiterwickeln. Dabei erzählt und wickelt jeweils ein Kind, während das andere zuhört. Dann wird gewechselt. Es ist aber auch möglich, dass ein Kind allein weiterwickelt. Für einen fast fussballgrossen Ball benötigt die Klasse etwa ein bis zwei Wochen.
Sobald die Kinder ausreichend Wolle gewickelt haben, wird diese mit einem Faden zusammengebunden und die gewickelte Wolle aufgeschnitten. Dadurch entsteht ein grosser, fluffiger und farbenfroher Ball.
Die Idee für den Klassenball ist entstanden, weil sich Marianne Aepli die Frage stellte, wie sie die Kinder beim Erzählen von persönlichen Erlebnissen und Gefühlen unterstützen könnte. In den USA ist der Klassenball als «Community Ball» bekannt. Marianne Aepli hatte darüber gelesen und beschlossen, die Idee in ihrer Klasse auszuprobieren. Seitdem ist der Klassenball ein wichtiges Element der Klassengemeinschaft.
Bereits die Herstellung des Klassenballs bietet eine gute Möglichkeit, an der Klassengemeinschaft zu arbeiten. Indem die Kinder von ihren persönlichen Erfahrungen und Gefühlen erzählen, lernen sie einander besser kennen. Sie teilen wichtige und schöne Momente und Erinnerungen miteinander. Gleichzeitig stellen sie gemeinsam ein Produkt her, das sie weiterverwenden können. Der Ball ist gross, bunt und flauschig – besonders ansprechend für die Kinder. Sie halten ihn gerne in den Händen, um zu erzählen.
Manchmal fertigt Marianne Aepli mit der gleichen Klasse mehrere Bälle an. Nämlich dann, wenn sie bemerkt, dass sich Unstimmigkeiten häufen, die Kinder sich stark vergleichen oder die Toleranz untereinander nachlässt. Marianne Aepli unterrichtet eine altersdurchmischte Klasse. So kommen jedes Jahr neue Schülerinnen und Schüler hinzu. Gerade deshalb lohnt es sich, mit jeder neuen Klasse jeweils einen neuen Ball zu wickeln. «Der Klassenball entfaltet eine andere Wirkung, wenn es wirklich der Ball ist, der die Klasse gemeinsam hergestellt hat», so Marianne Aepli.
Die Lehrerin hat noch nie erlebt, dass ein Kind überhaupt nichts erzählt hat:
«Das Phänomen am Klassenball ist, dass viele Kinder viel freier erzählen, wenn sie wickeln. Mit dem Wickeln der Wolle entsteht ein Erzählfluss. Ähnlich wie beim Gehen oder Spazieren.»
(Marianne Aepli, Klassenlehrperson).
Auch Kinder, die über wenig Sprache oder einen noch geringen Wortschatz in Deutsch verfügen, können einen Sprechbeitrag leisten, sei es durch einzelne Wörter oder kurze Sätze.
Hinweise, wie Lehrpersonen Sprechbeiträge unterstützen können, finden Sie bei den Gelingensbedingungen (Sprachliche Unterstützung).
Auch den fertig gestellten Ball setzt die Lehrerin für die Gemeinschaftsbildung ein. Bei Gesprächen im Klassenrat oder während philosophischer Gespräche hält jeweils das sprechende Kind den Ball. Im Klassenrat reflektieren die Kinder beispielsweise die Woche, indem sie von positiven Erlebnissen, Erfolgen und auch Herausforderungen berichten. Unter dem Punkt «Varia» geben sie den Ball ebenfalls herum und erzählen von weiteren Erlebnissen, Eindrücken und Gefühlen. Es sind jeweils sehr persönliche Beiträge. Die anderen Kinder hören aufmerksam zu – ganz ähnlich wie beim Wickeln des Balls.
Als Regel gilt, dass der Ball nicht herumgeworfen wird. Die Lehrerin hat beobachtet, dass gewöhnliche Bälle oder Würfel schnell einmal durchs Klassenzimmer fliegen oder nicht sorgfältig weitergegeben werden. Beim Klassenball ist dies anders:
«Im Klassenrat und den Klassengesprächen merke ich, dass die Kinder eine Verbindung haben zum Ball, dass ihnen der Ball wichtig ist. Er ist für sie etwas Besonderes, ein Ball, in dem ganz viel von den Kindern steckt.»
(Marianne Aepli, Klassenlehrperson).
Der Klassenball bietet auch die Möglichkeit, von traurigen Erlebnissen und negativen Gefühlen zu erzählen. Voraussetzung dafür ist, dass die Lehrperson die Klasse bereits gut kennt und ein starkes Vertrauensverhältnis innerhalb der Klasse besteht. Marianne Aepli beginnt die Erzählrunde stets mit positiven Erlebnissen und Gefühlen. Erst wenn sie spürt, dass die Klasse bereit ist, schwierige Fragen oder belastende Erzählimpulse zu bewältigen, führt sie diese ein.
Mögliche Erzählimpulse oder Fragen:
Erinnerst du dich an etwas, das dich traurig gemacht hat?
Hast du schon einmal etwas verloren, das dir sehr am Herzen lag?
Erzähle von einer Situation, in der du Angst hattest.
Beschreibe einen Moment, in dem du dich gestresst gefühlt hast.
Was bereitet dir Sorgen?
Der Klassenball unterstützt einen geschützten Rahmen, in dem die Kinder ihre Emotionen teilen können. Indem sie über ihre persönlichen Erfahrungen berichten, stärken sie die Klassengemeinschaft und lernen, Gefühle zu kommunizieren und sorgfältig mit den Gefühlen anderer umzugehen.
Sorgfältig überlegte und vorbereitete Erzählimpulse ermöglichen den Kindern, mehr voneinander zu erfahren und sich besser kennenzulernen. In die Vorbereitung können auch die Schülerinnen und Schüler einbezogen werden.
«Manchmal frage ich auch die Kinder, was sie denn voneinander wissen möchten. Und dann sammeln wir gemeinsam und ich überlege mir bei der Vorbereitung auf den nächsten Klassenball, welche Fragen sich gerade eignen.»
(Marianne Aepli, Klassenlehrperson).
Damit sich alle Kinder angesprochen und dadurch zugehörig fühlen können, wählt die Lehrperson idealerweise Erzählimpulse, zu denen alle Kinder einen Beitrag leisten können. So eröffnet beispielsweise die Frage nach allgemein positiven Erlebnissen viel mehr Erzählmöglichkeiten als es die Frage nach Ferienerlebnissen tun würde.
Kinder, die noch über einen geringen deutschen Wortschatz verfügen, werden von der Lehrperson mit Schlüsselwörtern unterstützt. Beispielsweise nennt Frau Aepli beim Sprechimpuls «Erzähle von einem Erlebnis, das dir besonders gut gefallen hat» Begriffe wie «Freunde», «spielen» oder «Spielplatz». Auf diese Weise erhalten die Kinder Anhaltspunkte und können einzelne Wörter oder kurze Zweiwortsätze äussern.
Eine weitere Möglichkeit zur Unterstützung ist die Verwendung von «Scaffolds» (sprachlichen Gerüsten). Die Lehrperson bietet dazu Satzanfänge an, zum Beispiel: «Mir hat es gefallen, als …» oder «Ich habe mich besonders gefreut, als…». Dadurch erhalten mehr Kinder die Möglichkeit, sich mitzuteilen. Auch das stärkt den Zusammenhalt in der Klasse.
Weitere Informationen zum Thema Scaffolds finden Sie bei den Ideen «Sprachbewusster Unterricht – Rituale» und «Schreibplan».
Je nach Gruppe ist es sinnvoll, die Sprechzeit der Kinder zu definieren. Einige Kinder wickeln nur kurze Zeit und erzählen dadurch weniger. Andere hören mit erzählen nicht mehr auf. Eine 5-Minuten Sanduhr kann hier helfen. Die Kinder orientieren sich beim Sprechen an der Sanduhr. Wenn ein Kind nichts mehr zu erzählen weiss, darf es weiterwickeln, auch ohne zu sprechen.
Klassenbälle eignen sich besonders dafür, Restmaterial zu verwerten. Die Kinder können kurze Garnstränge einfach miteinander verknüpfen, um einen bunten Klassenball zu gestalten. Für die Herstellung eines Klassenballs eignen sich die meisten Häkel- und Strickgarne aus Baumwolle, Wolle oder Polyester. Wichtig ist, dass das Garn etwas dicker ist, damit die Fäden am Ende gut sichtbar sind. Je weicher und dicker das Garn ist, desto «fluffiger» wird der Ball.
Videoanleitung zur Herstellung eines Klassenballs:
Milena Bieri, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, IZB
Marianne Aepli, Primarlehrerin, Dozentin