Wie können Lehrpersonen mit Schulklassen über Flucht, Krieg und Gewalt sprechen? Wie können sie dazu beitragen, dass Kinder mit diesen Themen nicht allein gelassen werden? Wie können diese Verunsicherungen und Ängste thematisiert werden? Wie können Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler auf ein Kind mit Fluchterfahrung in der Klasse vorbereiten? Bilderbücher zum Thema Flucht sind eine Möglichkeit, diesen Fragen zu begegnen. Mit dem Ziel, ein besseres Verständnis für Menschen zu entwickeln, welche vor Krieg und Gewalt geflüchtet sind. In dieser Idee zeigen wir konkret auf, wie Lehrpersonen mit dem Bilderbuch «Akim rennt» das Thema Flucht mit Kindern diskutieren können.
Text: Milena Bieri und Marianne Aepli
Empfohlen für Zyklus 1 und 2
Marianne Aepli zeigt ihrer Klasse 2a einen Ausschnitt des Titelbildes von «Akim rennt». Mit Hilfe eines zugeschnittenen Kartons deckt die Lehrerin das Bild grossflächig ab. Nur der Ausschnitt des rennenden Akim ist sichtbar. «Was macht der Junge da?» «Wie geht es ihm?» fragt Frau Aepli. «Der Junge rennt ganz schnell.» «Der Junge macht ein Wettrennen.» «Er sieht erschrocken aus.» Dies sind drei Antworten, die spontan fallen. Es folgt ein intensiver Austausch darüber, in welchen Situationen Kinder rennen. Dabei kommen verschiedene Beispiele zusammen: «Ich renne, wenn ich Fussball spiele.» «Ich renne bei einem Wettrennen.» Die Kinder nennen aber auch Situationen, in denen sie Angst empfinden und deshalb davonrennen. Anschliessend zeigt die Lehrperson das ganze Bild und es wird sichtbar, dass Akim auf der Flucht ist. Er ist auf der Flucht vor dem Krieg, hinter ihm schlagen Bomben ein. Er rennt um sein Leben.
Dann beginnt Marianne Aepli die Geschichte des Bilderbuches zu erzählen. Mittels der gezeichneten Bilder schildert sie einen vorerst normalen Tag, an dem Akim und seine Freundinnen und Freunde gemeinsam draussen spielen, als plötzlich Flugzeuge über ihre Köpfe fliegen. Die Kinder bekommen Angst und rennen nach Hause. Marianne Aepli lässt beim Erzählen bewusst Illustrationen weg, die sie als nicht altersgerecht beurteilt.
Als nächstes sehen die Kinder Akim im Türrahmen seines kaputten Hauses stehen. Die Lehrerin lässt die Kinder zu den Bildern viel erzählen. «Was seht ihr jetzt?», «Wie geht es Akim jetzt, was fühlt er?». Die Kinder lassen ihrer Fantasie freien Lauf. Mehrheitlich stellen sie fest, dass es Akim aufgrund seines Gesichtsausdrucks nicht gut geht und dass er sich allein fühlt.
Nun gelangt Marianne Aepli zu einer Zeichnung auf der Akim wieder allein dasteht und seine Familie sucht. Eine Nachbarin erklärt ihm, wohin seine Familie geflüchtet ist. Als Akim darauf sein Gepäck für die Flucht schnell zusammensucht, findet er seinen geliebten Teddybären. An dieser Stelle entsteht in der Klasse ein Gespräch darüber, wie es sich anfühlen muss, viele geliebte Gegenstände und Spielsachen für immer zurückzulassen und nur ganz wenige Dinge auf die Flucht mitnehmen zu können. Die Kinder tauschen sich darüber aus, was sie persönlich mitnehmen würden. «Es macht den Kindern grossen Eindruck, dass Akim auf der Flucht nur ganz wenige Dinge mitnehmen kann und er vieles zurücklassen muss», so Marianne Aepli[1].
Die nächste Situation zeigt Akim, der mit vielen anderen Menschen auf der Flucht ist und wie sie sehr weit zu Fuss gehen müssen. Die Kinder sind von diesem langen Marsch zu Fuss sehr beeindruckt und bewundern Akim. Darauf kommt in der Geschichte ein Lastwagen vorbei und die Flüchtenden können mitfahren. Man sieht, wie sich die Menschen gegenseitig helfen, den Lastwagen zu besteigen.
Endlich erreicht Akim das Flüchtlingslager. Akim beobachtet andere Kinder beim Spiel. Er kennt die Kinder nicht und ist traurig, da er nicht mitspielen kann. Auch hier können viele Kinder die schwierige Situation Akims nachvollziehen und wissen, wie es sich anfühlt, wenn sie nicht mitspielen dürfen. Es gelingt Akim jedoch bald, Kontakte zu den anderen Kindern zu knüpfen, so dass er mitspielen darf. Am Schluss der Geschichte findet Akim seine Mutter im Auffanglager wieder, die er auf der Flucht verloren hat. Glücklich fällt er in ihre Arme.
«Das Buch wirkt vor allem durch seine eindrucksvollen und berührenden Bilder in schwarz-weiss. Ich lasse die Kinder oft erzählen, was sie auf den Bildern sehen und wie die Situation auf sie wirkt», so die Lehrerin Marianne Aepli.
[1] Das Buch «Meine liebsten Dinge müssen mit» (von Sepideh Sarihi und Julie Völk, erschienen 2018 im Beltz Verlag) handelt von einem Mädchen, welches mit seinen Eltern das Heimatland verlässt. Es möchte Vieles mitnehmen, auch Dinge, die es gar nicht in seinen Koffer packen kann, z.B. die Freundin oder das Meer. Es eignet sich, um mit Kindern über ihre liebsten Dinge – auch immaterielle – zu sprechen.
(von Claude K. Dubois, erschienen 2013 im Moritz Verlag):
Akim ist ein Junge, der bei einem Überfall von Soldaten aus seinem Dorf am Kuma-Fluss flieht und sich auf eine gefährliche Reise begibt, um sich in Sicherheit zu bringen. Akim wird bei der Flucht von seiner Familie getrennt, gerät in Gefangenschaft und flieht darauf erneut, überquert mit anderen Geflüchteten einen Grenzfluss und landet schliesslich in einem Flüchtlingslager, wo er seine Mutter wiederfindet. «Ein berührendes Buch über ein erschütterndes Thema, eindrücklich in schwarz-weiss gezeichnet. Es kann Kindern ohne Fluchterfahrung helfen, geflüchtete Kinder besser zu verstehen. Je nach Alter und Erfahrungshintergrund kann auch nur ein Teil der Bilder gezeigt werden. Das Buch wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Katholischen Kinder- und Jugendbuch-Preis ausgezeichnet». (1)
Das Bilderbuch eignet sich vor allem für die Primarstufe und für Kinder, welche selbst keine Fluchterfahrung haben. Es kann Kindern ohne Fluchterfahrungen helfen, die schwierigen Situationen geflüchteter Menschen besser zu verstehen. Das Buch eignet sich besonders im Rahmen einer Vorbereitung der Klasse auf bald dazukommende neue Schülerinnen und Schüler, welche aus Kriegs- oder Krisengebieten geflüchtet sind.
«Ich verwende das Buch dann, wenn ich finde, dass die Kinder in der Klasse mehr Verständnis für Kinder mit Fluchterfahrungen benötigen. Durch die Erzählung erhalten sie einen Einblick, was eine Flucht für ein Kind bedeuten kann und welche schwierigen Situationen sie bewältigen müssen» (Marianne Aepli).
Die Lehrerin Marianne Aepli adaptiert jeweils die Erzählungen an die Konfliktregion der neu dazukommenden Kinder, da sich die Fluchterfahrung beispielsweise von Kindern aus Eritrea von denjenigen aus der Ukraine stark unterscheiden. Je nach den Gründen der Flucht können unterschiedliche Situationen in der Geschichte eingehender besprochen werden. «Sind es beispielsweise Kinder aus Eritrea, dann haben diese oft ganz lange Fussmärsche hinter sich. Dann bespreche ich das auch vertiefter in der Geschichte. Oder ich wusste von einem Kind, welches jahrelang in einem Auffanglager gelebt hat. In diesem Fall habe ich detaillierter zu dieser Lagersituation erzählt und diskutiert.» (Marianne Aepli).
Möglicherweise ergibt es sich, dass Kinder nach der Geschichte von «Akim rennt» auch Fragen an die Kinder mit einer Fluchterfahrung haben. Falls ein Bedürfnis nach einer Fragerunde besteht, muss die Lehrperson in einem Gespräch mit dem betroffen Kind bzw. dessen Eltern zuerst abklären, ob ein solches Klassengespräch für das Kind möglich ist. Bei solchen Klassengesprächen entsteht nicht selten die Möglichkeit die behandelte Geschichte von Akim mit betroffenen Kindern direkt zu vertiefen und so persönliche Bezüge herzustellen. «Ein Kind aus meiner Klasse hat ein Mädchen aus Syrien gefragt, wie denn ihr Haus dort ausgesehen hat. Und das Mädchen hat sehr berührend von ihrem Haus, dem schönen Garten und der roten Schaukel im Garten erzählt, die sie so vermisst. Dadurch haben auch die Kinder aus der Klasse erfahren, dass sie über diese Geschichte ihrer Klassenkameradin in eine Welt eintauchen, die sie noch nicht kennen und dass es neben den schlimmen Erfahrungen auch schöne Erinnerungen zu erzählen gibt» (Marianne Aepli).
Falls ein Kind nicht über die Heimat und seine Fluchterfahrungen mit der Klasse sprechen möchte, gilt es dies selbstverständlich zu akzeptieren. Meist verstehen die Kinder es sehr gut, wenn ihnen erklärt wird, dass es persönliche Geschichten gibt, die nur den Betroffenen gehören und über die sie nicht in der Klasse erzählen möchten.
Beabsichtigt die Lehrperson die ganze Geschichte zu erzählen, dann reicht eine Unterrichtslektion nicht. Es kann didaktisch sinnvoll sein, auf der Kindergarten- und Unterstufe, gewisse Bilder mit gewaltgeprägten Inhalten nicht zu zeigen. Es hat sich in der Praxis bewährt, entsprechende Zeichnungen mit einem Papier abzudecken und mehrere, nacheinander folgende Seiten, die die Lehrperson nicht zeigen möchte, mit einer Klammer zusammen zu heften. So kann sie beim Erzählen einfach von Klammer zu Klammer weiterblättern.
Hilfreich ist es, wenn sich Lehrpersonen schon vor den Klassengesprächen Gedanken darüber machen, welche Themen im Fokus stehen sollen und welchen Diskussionen sie auch bewusst Grenzen setzen wollen. «Bei mir ist es so, dass ich bezüglich Kriegssituationen nicht über Täter und Opfer sprechen möchte, bzw. darüber wer schuld ist am Krieg. Falls solche Fragen oder Bemerkungen kommen, ziehe ich hier eine Grenze.» (Marianne Aepli).
(1) Mantel & Kohli, 2022, S. 23
Dubois, C.K. (2013). Akim rennt. Frankfurt am Main: Moritz Verlag.
Mantel, C. & Kohli, C. (2022). Flucht – Trauma – Schule. 10 der häufigsten Fragen von Lehrpersonen. Broschürenreihe Unterrichts- und Schulentwicklung konkret. Pädagogische Hochschule Zug.
Sarihi, S. & Völk, J. (2018). Meine liebsten Dinge müssen mit. Weinheim: Julius Beltz Verlag.
Mantel, C. & Kohli, C. (2022). Flucht – Trauma – Schule. 10 der häufigsten Fragen von Lehrpersonen. Broschürenreihe Unterrichts- und Schulentwicklung konkret. Pädagogische Hochschule Zug.
Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. (2014). Deutscher Jugendliteratur Preis. Akim rennt.https://www.jugendliteratur.org/buch/akim-rennt-3897 verifiziert am 30.03.2023.
Milena Bieri, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, IZB
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Marianne Aepli, Primarlehrerin, Dozentin,
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